Am Ufer des Paradieses
Man sagt, es gebe kaum eine schönere Insel als diese. Manche verlassen sie nie wieder
von Bartholomäus Laffert
„Liebe Schwester Sue,
[…]mein Körper ist gefangen und doch ist meine Seele frei. Manchen mag das Leben mysteriös erscheinen, aber im Buddhismus geschieht alles nach den Gesetzen des Karma. Wenn den besten Menschen das Schlimmste widerfährt – und den schlimmsten nur Gutes, dann zweifeln wir. Aber vieles, was wir in diesem Leben erfahren, ist das Resultat von Taten aus dem vergangenen – und das, was wir in diesem Leben tun, beeinflusst die Zukunft. Deshalb sitze ich im Gefängnis, auch wenn ich das Verbrechen nie begangen habe“.
Am 24. Februar 2016 schreibt der Gefangene, dem sie die Nummer 590018 gegeben haben, diese Worte an die Frau, die ihm versprochen hat, bis zum Ende für die Wahrheit zu kämpfen. Seit einem Jahr sitzt der Mann namens Zaw Lin im Todestrakt des berüchtigten Bangkwang Prison in Bangkok.
Eigentlich hätte Sarah Rushford* durch Europa reisen wollen. Oder nach Australien, so wird es ihre Mutter den Reportern später erzählen. Die Mutter wird damit hadern, dass ihre Tochter nach Thailand flog und mit dem Boot ausgerechnet nach Koh Tao übersetzte. Auf dieses kleine Stück Erde, kaum 21 Quadratkilometer groß, mit seinen 7000 Bewohnern, von denen 4000 Gastarbeiter aus Myanmar sind. Kokospalmen kriechen die Hügel hinunter über den weißen Strand, strecken die Köpfe hinaus auf das türkisfarbene Meer; in den Riffen leben Meeresschildkröten und Walhaie. Nirgends auf der Welt werden mehr Tauchscheine ausgestellt, 1,5 Millionen Touristen jedes Jahr – die meisten von ihnen keine 30 Jahre alt.
Im Herbst 2014 hat Sarah Rushford, 23, eine selbstbewusste junge Frau mit wasserstoffblondem Haar, gerade in England das erste Jahr ihres „Language and Speech“-Master-Studiums hinter sich gebracht. Sie liebt die Musik von Bastille und Nick Mulvey, an manchen Wochenenden geht sie reiten, noch häufiger macht sie Party. Auf Facebook schreibt sie dann: #LetsgetMessy und postet Fotos ihrer Drinks.
Steve Layton*, 24, kommt wie Rushford am 12. September 2014 auf Koh Tao an. Auch er übernachtet im Turtle Ressort*, von dessen Balkonen man den längsten Strand der Insel, den Pisamai Beach*, überblicken kann. Layton ist auf der Insel Jersey aufgewachsen. Er ist ein Schlacks, 1,93 Meter groß, sportlicher Typ, blaue Augen, Master als Bauingenieur, ein gutmütiger Kerl, sagen seine Freunde. Später werden viele schreiben, Sarah Rushford und er seien ein Paar gewesen – dabei hatten die beiden sich erst auf der Insel kennengelernt.
Die Nacht, die ihre Biografien für immer zusammenschweißt, ist dunkel, nur ab und an scheint der Mond durch die Wolkendecke. Nieselregen. Schwere Luft. Am Strand ist gerade eine Feuershow zu Ende gegangen. Etwas abseits sitzen drei burmesische Gastarbeiter unter einem Pinienbaum. Sie rauchen Zigaretten, trinken Bier, einer zupft eine Gitarre, sie singen Lieder in Yakai, ihrer Muttersprache. Sonst ist es ruhig am Pisamai Beach.
Die Turtle Bar* mit dem kegelförmigen Pool, von dem aus man die Bucht überblickt, in der die sichelförmigen Longtailboote wie schlafende Wasservögel auf den Wellen treiben, ist noch auf. Es ist 00.15 Uhr, als Sarah Rushford die Bar betritt. Zwei Stunden später, um 02.08 Uhr, kommt Steve Layton durch die Tür. Ein Bild aus jener Nacht zeigt die beiden, wie sie mit anderen an einem langen Biertisch sitzen. Sarah umklammert ihren Longdrink, Steve sein Bier.
Sie lächeln in die Kamera.
Als die Insel am nächsten Morgen erwacht, ist der Pisamai Beach zum Tatort geworden. Unter den Augen der Bronzestatue König Chulalongkorns ist Blut in den Sand gesickert. Im knietiefen Wasser der Bucht treibt ein Leichnam, komplett entkleidet, bis auf eine Socke am linken Fuß. Die Lippen sind blau, die Augen grau umrandet. Schürfwunden zeugen von einem Kampf; genau wie die Stichwunden, manche drei, vier, fünf Zentimeter lang, in der Wange, am Hals, am Hinterkopf, elf insgesamt. Der Name des Toten: Steve Layton.
Zwölf Meter von ihm entfernt, bei einem Felsen, liegt Sarah Rushford im Sand. Das pinkfarbene Top bis zur Hüfte hinuntergezogen, den Rock nach oben gezerrt, irgendjemand hat den Slip runtergerissen, die Beine angewinkelt und weit auseinander gestreckt. Der Körper ist unversehrt. Doch das Gesicht ist zertrümmert.
Dieser Morgen wird die Leben vieler Menschen verändern. Die der Angehörigen, die zweier junger Männer, die bald zu Verdächtigen werden, die der Inselbewohner – und auch das Leben der Britin Suzanne Buchanan, die damals auf der Nachbarinsel Koh Samui lebt.
Buchanan ist heute 50 Jahre alt. Sie beschäftigt sich bereits von Anfang an mit dem Fall von Rushford und Layton. Sie sagt, ihr gehe es dabei um Gerechtigkiet, aber auch um eine Frage, die sie schon lange zuvor umgetrieben habe: „Was zum Teufel ist nur auf dieser Insel los?”
Buchanan war misstrauisch, als sie um ein Interview für diesen Text gebeten wurde. Sie hat zu viele Menschen gegen sich aufgebracht, als dass sie es sich erlauben könnte, unvorsichtig zu sein. Beim ersten Gespräch über Facetime wirkt sie aufgekratzt. Die Stimme springt hin und her zwischen Betroffenheit und Wut. Statt zu weinen, flucht sie, wie sonst nur Seemänner fluchen können. Man merkt, dass Thailand ihr noch immer sehr nahe ist, obwohl Buchanan inzwischen mehr als 9000 Kilometer Luftlinie entfernt davon in Großbritannien lebt. Sie hat ihre zweite Heimat verlassen müssen.
Es war Anfang der 2000er, als Buchanan nach Thailand auswanderte. In Australien hatte sie gelebt, in Griechenland, in Vanuatu, nun strandete sie auf Koh Tao. Sie bezog einen Bungalow im Turtle Ressort und ließ sich zur Tauchlehrerin ausbilden. Sie habe einen Traum gelebt, sagt sie, ewige Sonne, Strand, klares Wasser, höfliche Einheimische, freigeistige Aussteiger wie sie selbst, Cocktails am Strand. Buchanan war bald gutvernetzt und wohlgelitten. Manchmal schaukelte sie den kleinen Sohn des Besitzers des Ressorts auf ihren Knien.
Später zog sie auf die Nachbarinsel Koh Samui. 2013 gründete sie dort die Samui Times, ein englischsprachiges Online-Magazin, sie schrieb über Partys, Restauranteröffnungen, ließ es sich gut gehen auf Empfängen. Und wenn wieder einmal ein Tourist verunglückte, dann war sie dank ihrer Verbindungen meist die Erste, die die Nachricht verbreitete.
Der Vorfall, über den sie am Morgen des 15. September 2014 auf Facebook las, war anders. Jemand hatte Bilder der beiden Opfer gepostet. „Ich habe schon viele Tote gesehen. Aber keine wie diese”, sagt Buchanan. Als sie Sarahs eingeschlagenen Kopf gesehen habe, sei ihr ein Gedanke gekommen: „Diese Frau hat ihr Gesicht verloren!”
Dem Gedanken folgte eine Frage: „Wen hat diese Frau nur so wütend gemacht?”
Und dann habe Buchanan den Namen des Mannes gelesen, der kurz nach Sonnenaufgang die Polizei alarmiert haben soll.
70 Kilometer entfernt auf Koh Tao suchen Polizisten an diesem Morgen nach Beweisen. Sie sammeln:
Drei Zigarettenstummel, 2x L&M, 1x Marlboro
Eine Plastiktüte.
Einen Flip-Flop, schwarz.
Ein benutztes Kondom.
Eine Gartenhacke mit Holzgriff, an der Blut haftet.
Was sie nicht finden, sind: Zeugen.