Der verlorene Sohn
Von Helena Lea Manhartsberger und Nora Belghaus
erschienen am 14. Juni 2024 bei GEO
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Vor vier Jahren übertrat Bladis Mejía Saraoz im Norden Mexikos die Grenze zu den USA. Seitdem wartet seine Mutter Cristina auf ein Lebenszeichen oder wenigstens die gesicherte Nachricht von seinem Tod. Ihr ältester Sohn ist einer von Hunderten Migrantinnen und Migranten, die jedes Jahr verschwinden. Freiwillige und Forensiker suchen nach ihnen.
Auf einem Hotelbett hat Bladis ausgebreitet, was er bei seinem Marsch durch die Wüste mitnehmen will: eine Rolle Klopapier, Taschentücher, Kopfhörer, Haargel, Schmerztabletten, Wick Vaporub, ein paar Handschuhe mit Camouflage-Print. Er fotografiert seine Habseligkeiten und sich selbst und schickt die Fotos seiner Mutter Cristina Saraoz. Am Abend des 2. April 2020, einem Donnerstag, schreibt Bladis ihr aus der Grenzstadt Sonoyta über Whatsapp:
“Der Typ hat gesagt, ich darf mein Handy nicht anmachen. Ich werde also fünf Tage nicht erreichbar sein.”
“Also erschreck dich nicht”
“Okay, mein Herz. Sobald du kannst, schreib mir”, antwortet sie.
“Bitte pass gut auf dich auf.”
“Auf dem Weg”
“Wir beten für dich, mein kleiner Sohn”
“Ja Mamita, ist gut”
“Macht euch keine Sorgen”
“Ich verspreche dir, dass es mir gut gehen wird”
Es ist die letzte Nachricht, die Saraoz von ihrem Sohn bekommt. In der Sonora-Wüste, die sich von Mexiko bis weit nach Arizona erstreckt, verliert sich seine Spur.
Als Bladis im April 2020 vom Nordosten Mexikos gen Norden aufbricht, ist er 22 Jahre alt. Wie zehntausende andere Menschen aus Lateinamerika allein in diesem Monat hat er ein Ziel: Estados Unidos, USA, das Land, wo es Arbeit und Lohn, Frieden und Aussicht auf ein besseres Leben geben soll. Doch in diesem neuen Leben kommt Bladis nicht an. Menschen wie er werden in Lateinamerika ab diesem Moment mit nur noch einem Wort beschrieben: „desaparecido“, verschwunden.
9.329 auf dem Weg in die USA verschwundene Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner zählt das „Missing Migrants Project“ der UN-Organisation für Migration (IOM) seit 2014, Stand April 2024. Und noch viel mehr sollen es sein. Manche verschwinden bereits weit vor der Grenze, auf der Route durch Zentralamerika oder kurz vor ihrem Ziel im Norden Mexikos, andere jenseits der Grenze, in New Mexico, Texas – oder Arizona.
Dort machen sich an einem Novembertag 2023 die US-Amerikaner Alizah Simon, 27, und Bryce Peterson, 32, auf den Weg in die Sonora-Wüste, die auch Bladis angesteuert hatte. In der Mittagshitze schultern sie ihre Rucksäcke und wandern los, über staubigen Boden und Gestrüpp. Beide schleppen je drei Kanister mit 15 Liter Wasser und Lebensmittel. Nach gut zwei Stunden erreichen sie eine Schlucht. An Bäumen und in Höhlen deponieren sie die Wasserkanister, Thunfischdosen, Bohnen, Cracker. „No more Deaths“, „keine Toten mehr“ heißt die NGO, für die sie ehrenamtlich arbeiten. Am Wegrand liegen Blister von Schmerztabletten, leere Dosen; auf einem Busch finden sie einen Schuh. Jemand hat ein breites Stück Teppich unter die Sohle genäht. Migranten tragen solche Schuhe, um keine Spuren im Sand zu hinterlassen, „damit die Grenzpolizei sie nicht findet“, sagt Simon. Schon oft hätten sie Menschen gerettet, die dehydriert und orientierungslos durch die Wüste irrten.
Bei einer Wanderung sei Alizah Simon einmal auf ein menschliches Skelett gestoßen, unter einem Baum, 100 Meter vom nächsten Parkplatz entfernt. Sie habe die Grenzpolizei angerufen, die habe die Knochen mitgenommen. Ob die Überreste identifiziert wurden, wisse sie nicht. Später bastelte jemand am Fundort ein gelbes Kreuz aus Holz und hängte einen Rosenkranz darüber.
Freiwillige, wie Simon, Peterson und andere aus humanitären Gruppen, geben Menschen wie Cristina Saraoz ein wenig Hoffnung.
Bladis Mutter weiß bis heute nicht: Sucht sie ihren lebenden oder ihren toten Sohn?
Das Davor und das Danach
Drei Jahre, sieben Monate und einen Tag nach Bladis’ Verschwinden, im November 2023, blättert Cristina Saraoz, 44 Jahre, an ihrem Küchentisch in der Akte ihres Sohnes, darin sein letztes Selfie als Kopie. „Nichts schmerzt so sehr wie die Gewissheit über den Tod deines eigenen Kindes“, sagt sie. „Aber die Gewissheit nicht zu haben, ist genauso schlimm”. Saraoz kennt viele Geschichten über die Vermissten an der Grenze. Und über die Toten: verdurstet in der Wüste, ertrunken im Rio Grande, Gewaltverbrechen von Kartellen und Schleuserbanden zum Opfer gefallen. Manchmal werden ihre Körper gefunden, im Fluß oder unter Büschen. Andere liegen an unbekannten Stellen begraben, und mit ihnen die Wahrheit über ihren Tod.
Saraoz wohnt mit ihrer 11-jährigen Tochter Perla, dem zweitältesten Sohn Ronay, 23, und dessen Partnerin in Emiliano Zapata, einem Dorf in den Bergen von Chiapas, dem ärmsten Bundesstaat Mexikos. Ihr Mann war lange krank. Im Oktober 2022 starb er. Gemeinsam mit dem Sohn betreibt sie im Nachbarhaus eine Tortilleria. Der jüngste Sohn Cristian, 21, ist zum Geld verdienen nach Nordmexiko gegangen.
Fast alle Wände ihres Hauses leuchten in verschiedenen Farben. Ein Jahr nach Bladis’ Verschwinden hat Cristina Saraoz neu gestrichen – nur nicht in seinem alten Zimmer. Saraoz zeigt den goldenen Pumakopf, den Bladis einst an die Wand gemalt hat: das Emblem seines Lieblings-Fußballclubs „Pumas UNAM“. Längst ist Perla hier eingezogen, mit Teddy und Plüschhund.
Später sitzt Saraoz unter dem fahlen Licht einer LED-Glühbirne in ihrer Küche. Das Regal hinter ihr quillt über von bunter Tupperware, aus der Zeit, als sie noch in der Nachbarschaft damit handelte. Um die Ecke steht der Käfig mit dem Wellensittich. Perla lässt die Finger an den Gitterstäben entlangfahren, während ihre Mutter sich an ihr altes Leben erinnert.
Als Bladis 1998 zur Welt kommt, ist Cristina Saraoz 19 Jahre alt. Neben der Tupperware verkauft sie auch „amerikanische Klamotten“ aus dem Katalog. Ihr Mann arbeitet als Lehrer. Sonntags gehen sie in die Kirche direkt gegenüber, eine Gemeinde der Siebentags-Adventisten. Ein Leben ohne große Sprünge, aber „es war alles da”, sagt sie.
Bis ihr Mann an den Nieren erkrankt. Er braucht eine Dialyse, bald jeden Tag. Trotzdem arbeitet er. 2018 zieht ihr Ältester, Bladis, mit 20 Jahren in die Großstadt, verdingt sich in einer Fabrik für Auto-Sitzheizungen und schickt Geld nach Hause, so viel er kann.
Silvester 2019 schenkt Bladis seiner Mutter ein Flugticket; zum ersten Mal ist sie in einer großen Stadt. Auf Selfies strahlen Mutter und Sohn.
Drei Monate später, im März 2020, geht es dem Vater plötzlich schlechter, er muss mehrere Wochen ins Krankenhaus. Das Coronavirus hat das Land erreicht. Medikamente werden knapp und teuer. „Bladis konnte das nicht gut aushalten, diese Unsicherheit, diese Angst um seinen Vater”, erzählt Saraoz. Kurze Zeit später habe der Sohn sie gefragt: „Mamita, was hältst du davon, wenn ich in die USA gehe?” Saraoz ist skeptisch: “Was willst du dort? Und wie kommst du darauf?”. Er stehe über Facebook mit einem Typen in Kontakt, den er noch aus Schulzeiten kenne, habe er zu ihr gesagt. Der lebe nun in den USA und verdiene dort gutes Geld. Er habe angeboten, ihm die Reise zu organisieren, und einen Job als Chauffeur. Er müsse auch nur einen Teil der Kosten anzahlen, den Rest könne er dann vor Ort abarbeiten. Er würde mehr Geld nach Hause schicken können, für die Medikamente des Vaters, viel mehr.
Irgendwann gibt ihm Saraoz ihren Segen, mit Bauchschmerzen. “Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber er wollte es so dringend”, sagt sie.
Die Reise und der Schlepper
Am 27. März steigt Bladis in den Bus nach Sonoyta, einer Grenzstadt im mexikanischen Bundesstaat Sonora. Am 31. März kommt er dort an. Doch bevor es weitergeht auf die andere Seite, nach Arizona, muss er eine Anzahlung leisten. Er bittet seine Mutter um Geld. 7.000 mexikanische Pesos habe Saraoz für Bladis’ Grenzübertritt auf dessen Konto überwiesen, knapp 370 Euro, geliehen von einem Cousin. Bladis habe noch etwas von seinen Ersparnissen draufgelegt, wie viel, weiß Saraoz bis heute nicht.
Zwei Tage später trifft Bladis auf drei weitere Reisende, eine Frau, zwei Männer, und einen Mann, der sie über die Grenze bringen soll: der Guide und Handlanger des Bekannten aus Schulzeiten, der Bladis von der illegalen Einreise in die USA überzeugt hatte. Ihm gibt Bladis das Geld. In diesen Tagen hält er seine Mutter beinahe stündlich auf dem Laufenden, sie telefonieren, schreiben sich Nachrichten.
Aus dem Hotelzimmer schickt Bladis ihr das Selfie und das Foto von seinem Gepäck. Und schließlich die letzte WhatsApp. Nun beginnt für Saraoz das Warten. An den vier Tagen, die auf diesen Abend folgten, habe sie kaum essen, kaum schlafen können, den Blick aufs Handy geheftet. Am 6. April hält sie es nicht länger aus. Bladis hatte ihr die Nummer des alten Schulbekannten gegeben, Saraoz schreibt ihn auf Whatsapp und Facebook an, fragt nach dem Verbleib ihres Sohnes. Doch der "Coyote", der Schlepper, antwortet entweder gar nicht auf ihre Fragen oder einsilbig, sie solle sich gedulden, er würde sich bald mit Informationen melden.
Ihr Ton in den Nachrichten wird schärfer, sie appelliert an seine Verantwortung, drängt ihn, durch den Guide mehr herauszufinden über die Route der Gruppe. Irgendwann rückt er damit heraus, dass Bladis eventuell in der Sonora-Wüste in Arizona zurückgeblieben sein könnte, im Growler Valley, einem Tal zwischen zwei Gebirgszügen. Dort, wo einzig ein paar Höhlen unterhalb der Felsen etwas Schatten spenden, wo Dornenbüsche wachsen und Saguaro-Kakteen, im Schnitt 9 Meter hoch. Danach bricht der Kontakt ab, der Kojote hat sie blockiert.
Die Suche beginnt
Ronay, Bladis’ jüngerer Bruder, der bei seiner Mutter lebt, durchforstet nun das Internet und stößt auf zwei humanitäre Gruppen, die im US-Grenzgebiet nach Vermissten suchen. Er gibt die Informationen des Kojoten an eine der Gruppen weiter. Am 21. April, Tag 19 seit Bladis’ Verschwinden, machen sich fünf Männer und eine Frau auf die Suche nach ihm. Sie sind Ehrenamtliche der “Samaritaner von Ajo”, eine Helfergruppe wie auch die NGO „No more Deaths“. Ajo ist eine kleine Stadt in der Sonora-Wüste von Arizona. Die Samaritaner, überwiegend weiße, pensionierte US-Amerikanerinnen und Amerikaner, fahren regelmäßig in die Grenzregion und suchen dort nach Migranten wie Bladis, die in Not geraten sind, von ihren Gruppen zurückgelassen wurden, sich verirrt haben. Sie versorgen die Menschen mit Wasser, Lebensmitteln, verbinden kleine Wunden oder rufen im Notfall Grenzpolizei und Krankenwagen.
Am Abend schicken sie Bilder von der Suche an Ronay. Die Samaritaner sehen darauf aus wie Wanderer, mit Rucksäcken, Wanderstöcken, Hüten und Sonnenbrillen, in beigefarbenen Outdoor-Hosen und weißen Langarm-Shirts. Sie stehen auf steinigem Boden unter wolkenlosem Himmel.
Doch die Hoffnung, die Ronay und seine Familie geschöpft haben, zerschlägt sich. Sie haben ihn nicht gefunden.
Cristina Saraoz fällt es immer schwerer, morgens aufzustehen, ihrem Mann bei der Dialyse zu helfen, die Tochter Perla in die Schule zu bringen. Tage werden zu Wochen und Monaten. Sie gibt ihr Geschäft auf, schafft nur noch das Allernötigste. „Perlita ist meine Kraft“, sagt sie später.
Im Frühjahr 2021 erzählt ihr ein Bekannter von „Voces Mesoamericanas”: Die Organisation kümmere sich um Familien, deren Angehörige auf dem Weg in die USA verschwunden seien, vielleicht könne sie helfen.
Saraoz nimmt Kontakt zu “Voces” auf. Wenig später sitzt sie einem Mini-Bus nach San Cristobal, wo die NGO ihr Büro hat. Sandybell Reyes, eine Sozialanthropologin, geht dort mit Saraoz durch, welche Schritte sie nun gemeinsam gehen können. Gemeinsam. Für Saraoz ist das ein Wendepunkt. Sie sagt: “Ich habe mich seitdem nicht mehr so allein gefühlt mit allem.”
Im April 2021 steigt sie zum zweiten Mal in den Bus, diesmal zusammen mit Ronay, Cristian und Perla. Vier Stunden schlängelt er sich ins Tal hinab, dann knapp zwei Stunden wieder hinauf in die Berge nach San Cristobal. An diesem Tag wartet nicht Reyes auf sie sondern ein Anthropologenteam aus Mexiko Stadt. Das hat sich hier für mehrere Tage eingerichtet, um Familien von Verschwundenen zu interviewen.
Eine forensische Anthropologin fragt Cristina Saraoz nach Kleidung, die Bladis trug, nach Muttermalen, Rötgenbildern, Piecings, Knochenbrüchen. Danach nimmt sie der Mutter und den Kindern Blut und Speichel ab für die DNA-Proben. Sie sammelt die Ante Mortem Daten (AM): alles, was bei der Identifizierung von Leichnamen oder Skeletten helfen könnte.
Die Interviewerin gehört zum „Argentinischen Team für Forensische Anthropologie“, dem EAAF, das mit Voces zusammenarbeitet. Ziel des EAAF ist es, Vermisste und ihre Familien wieder zusammenzuführen – die Lebenden und ihre Toten. Die Gründung reicht zurück ins Jahr 1984, kurz nachdem Argentinien von einer Militärdiktatur zur Demokratie zurückgekehrt war. In den sieben Jahren zuvor waren etwa 30.000 Männer und Frauen von den Militärs verschleppt, gefoltert und ermordet worden. Sie gingen als „Verschwundene” in die Geschichte Argentiniens ein. Das EAAF machte es sich zur Aufgabe, die Toten aus den lange Zeit geheimen Gräbern zu bergen und zu identifizieren. Seit ihrer Gründung hat die NGO in über 50 Ländern auf der ganzen Welt bei der Identifizierung von Opfern politischer Konflikte geholfen.
Ein EAAF-Gründungsmitglied ist Mercedes Doretti, die heute in New York lebt. In einem Zoom-Gespräch erzählt die 65-Jährige vom “Proyecto Frontera”, dem “Projekt Grenze”, gegründet im Jahr 2009. Die Mission: Strukturen in den Herkunftsländern in Lateinamerika und dem Zielland USA zu schaffen – Netzwerke, Informationsaustausch, gemeinsame Datenbanken, mit deren Hilfe die Toten im Grenzland zwischen Mexiko und den USA identifiziert werden können. Doretti sagt: “Rein wissenschaftlich betrachtet ist die Angelegenheit klar und einfach. Die größte Herausforderung hier aber ist die Koordination”.
Man müsse sich das so vorstellen: Auf der einen Seite sind die Toten, die entlang der 3.000 Kilometer langen US-Grenze zu Mexiko gefunden und von verschiedenen gerichtsmedizinischen Einrichtungen untersucht werden. Tote, die mit hoher Wahrscheinlichkeit migrieren wollten. Meistens finden sich nur noch ihre Skelette, selten sind Ausweispapiere dabei.
Auf der anderen Seite stehen die Familien. Manchmal lebt ein Teil in den USA, ein anderer im Herkunftsland. Die meisten von ihnen leben in Armut, tausende Kilometer von der US-Grenze entfernt, manche können nur schlecht lesen und schreiben.
Wie bringt man diese beiden Seiten zusammen? Die Post-Mortem-Daten (PM) der US-Gerichtsmedizin mit den Ante-Mortem-Daten (AM) der Familien, sofern die Angehörigen überhaupt von Hilfsangeboten der NGOs wie “Voces” oder dem EAAF erreicht werden.
Es fehle der Datenaustausch zwischen USA, Mexiko und den anderen Herkunftsländern, um Informationen zu bündeln und an die richtigen Adressaten zu bringen, sagt Doretti. Deshalb habe man 2010, ein Jahr nach der Gründung des Projekts, begonnen, Daten zu zentralisieren. An verschiedenen Standorten in Mexiko und Zentralamerika richtete man Anlaufstellen für Familien ein und legte einheitliche forensische Datenbanken an, wie in Chiapas bei “Voces”. Seit 2010 konnten so – Stand Juni 2023 – 296 von 2.123 dem Projekt als vermisst gemeldete Migrantinnen und Migranten identifiziert und ihre Überreste den Angehörigen übergeben werden. Es ist ein Bruchteil der unidentifizierten Toten: Die US-Gerichtsmedizin hat weit über Tausend schon anonym bestatten lassen oder verwahrt sie noch in Kühlhäusern. Doretti und ihr Team übernehmen eine Aufgabe, die eigentlich in der Verantwortung der Herkunftsländer und der USA liegt: die forensische Arbeit. Sie kümmern sich darum, dass die Menschen würdevoll beerdigt werden, und Angehörige sich von ihnen verabschieden können – finanziert von Spenden- statt von Steuergeldern.
Als Saraoz im November 2023 an ihrem Küchentisch sitzt, denkt sie laut darüber nach, was Bladis zugestoßen sein könnte: Vielleicht sitze er im Gefängnis. Weil der Guide ihm Drogen mitgegeben habe, die Polizei ihn damit erwischt habe, nun säße er für lange Zeit ein und könne keinen Kontakt zu ihr aufnehmen, weil er nicht dürfe oder könne, weil ihm der Guide das Handy abgenommen hatte. Vielleicht hielten Leute eines Drogenkartells ihn gefangen. Oder Menschenhändler in den USA, die ihn zwangen zu arbeiten, wie einen Sklaven.
Es sind keine haltlosen Annahmen, es gibt Berichte über solche Fälle. Doch die drei Jahre, die vergangen sind, und die Berichte der NGOs über die tödlichen Schicksale im Grenzland sprechen eher dafür, dass Bladis nicht mehr am Leben ist. Auch Mitglieder der humanitären Gruppen, die nach Bladis gesucht haben, und ein Gerichtsmediziner halten seinen Tod für wahrscheinlich. Sie vermuten, dass er seine Gruppe verloren hat oder zurückgelassen wurde. Vielleicht wurde das, was von ihm blieb, auch bereits von einem humanitären Suchtrupp oder einem Grenzpolizisten gefunden aber nie identifiziert. Saraoz denkt in diese Richtung nicht weiter, zumindest nicht laut.
Sollte Bladis dieses Schicksal erlitten haben, müsste sein Körper oder das, was von ihm übrig blieb, irgendwann auf Bruce Andersons Obduktionstisch liegen oder schon gelegen haben. Anderson ist Gerichtsmediziner von Pima County, einem Landkreis im Bundesstaat Arizona, in dem auch das Gebiet liegt, in dem Bladis verschwunden sein soll.
Am 15. November steht der hochgewachsene Mann, 68 Jahre alt, im weißen Kittel über der glänzenden Edelstahlfläche eines Tisches gebeugt und sortiert die Knochen von “Fall 23-3893”. Der Raum ist fensterlos, die Luft kühl, das Licht grell, es riecht nach Verwesung. Die Knochen, die vor ihm liegen, hat er aus einem weißen Leichensack geholt, darin auch ein großes Knäuel schwarzer Haare. Auf dem Tisch schiebt er mit flinken Fingern die kleinen und großen Knochen herum, bis sie ein Skelett ergeben, es ist fast vollständig, inklusive Schädel.
„Die Knochen haben noch diese gelbliche Farbe und sind fettig, das spricht dafür, dass die Leiche etwa vier bis zehn Wochen lag, bis sie gefunden wurde”, sagt er und zählt auf: „Es fehlen zwei Rippen und ein kleiner Teil vom Steiß. Wahrscheinlich haben Steppenwölfe oder Aasgeier die Körperteile rausgerissen und fortgetragen“; „Der Schädel hat hohe flache Wangenknochen – das deutet auf eine indigene Herkunft hin.” An der Hose, die mit dem Skelett gefunden wurde, fehlt der Bund, er wurde abgerissen – „Das sehen wir öfter. Vermutlich hat die Person Geld darin eingenäht und versteckt und jemand hat es ihr gestohlen”. All das zusammen mit dem Fundort im Grenzland spreche dafür, dass die Person migriert sei.
Anderson nimmt sich den Schädel vor. Nach den Fingerabdrücken, die bei einem skelettierten Körper nicht mehr genommen werden können, ist das Gebiss eines Menschen für seine Identifizierung besonders aussagekräftig. Mit einem tragbaren Röntgengerät bestrahlt er die Zähne. Auf einem Computerbildschirm neben ihm erscheinen die Aufnahmen, Anderson zeigt mit dem Finger darauf: „Zwei Wurzelkanäle sind gebogen. Gibt es Röntgenaufnahmen von einem Zahnarzt, ließe sich die Person leicht identifizieren. Aber arme Menschen sehen selten einen Zahnarzt”.
Im Gebiss entdeckt er einen Weisheitszahn, seine Krone ist noch sehr klein. Anderson misst ihren Umfang, dann wendet er sich einer Abbildung zu, die neben ihm an der Wand hängt. Ein sogenanntes Wachstumsschema, das Gebisse in unterschiedlichen Altersgruppen zeigt. „Dentales Alter: Zwischen 15 und 19 Jahren.”
Dann zeigt er auf ein paar Linien auf dem Schädel, Wachstumsfugen. Er findet sie auch an den Kniegelenken. Sie sind noch sichtbar, also nicht vollständig geschlossen und verknöchert. Anderson kann nun genauer sagen: „Diese Person war nicht älter als 15, maximal 16 Jahre alt.” Am Becken kann er außerdem erkennen: Das Skelett war einst eine weibliche Person. Und sie war nicht größer als etwa 1 Meter 46. Mit einem Seufzen sagt Anderson: „Habe lange nicht mehr einen so jungen Menschen hier liegen gehabt”.
“Fall 23-3893” war also ein Mädchen im Teenageralter, mit Haaren bis zur Hüfte. Mehr vermag Anderson nicht über sie zu sagen. Damit sie einen Namen bekommt, müssten die PM-Daten aus den USA mit den AM-Daten der Vermissten-Datenbanken des “Grenzprojekts” verglichen werden. Falls ihre Familie dort ihre Daten abgegeben hat, wäre ein schnelles Match möglich. Die Familie würde Gewissheit über das Schicksal ihrer vermissten Tochter, Schwester oder Cousine haben. Doch es gibt da ein Problem.
Um einen Körper, ein Skelett, eindeutig zu identifizieren, um zu garantieren, dass eine Familie nicht eine fremde Person beerdigt, braucht es den DNA-Abgleich. In den USA lägen die Kosten der DNA-Analyse eines “UBCs”, Undocumented Border Crossers, eines illegalen Einwanderers, bei drei- bis fünftausend Dollar, sagt Anderson. Der Preis sei so hoch, weil private Labore die Analysen machen müssen. Der Grund: Das FBI hat Zugang zu den Daten der staatlichen Labore, deshalb kommen sie nicht infrage, zum Schutz der Daten jener Familien von Vermissten, die sich illegal in den USA aufhalten. Für die Kosten komme der Staat also nicht auf, sagt Anderson, und fügt hinzu: “Unser Landkreis ist zwar einer der liberalsten in Arizona, aber wenn herauskäme, dass mit Steuergeldern tote Migranten identifiziert werden, dann würden hier die Straßen brennen. Diese armen Teufel gelten hier nur als Menschen zweiter Klasse”.
Weil die Familien der Toten das Geld meist nicht selbst aufbringen können, helfen NGOs und Stiftungen mit Spendengeldern. Doch diese seien in den vergangenen Jahren immer weniger geworden. So liegen aktuell etwa 200 bis 300 Überreste von mutmaßlichen “UBCs” aufbewahrt in Boxen im Lager der Pima County Gerichtsmedizin. Aufgestaute Proben von Zähnen und Knochen unbekannter Menschen seit 2019, deren Familien vielleicht längst eine DNA-Probe abgegeben haben und nur auf den Abgleich warten
Ein Hoffnungsschimmer
Könnte Bladis unter jenen sein, die nie identifiziert wurden, deren Überreste in der Gerichtsmedizin von Pima County liegen? Bruce Anderson führt in sein Büro. Ein kleiner Raum, an jeder Wand ein prall gefülltes Bücherregal, in der Mitte ein Schreibtisch mit PC, darauf, darunter, daneben auf dem Boden stapeln sich die Akten. Er startet seinen Computer und öffnet eine Datenbank. Was sagt Anderson zu der Hypothese von Bladis’ Mutter, dass ihr Sohn von der Grenzpolizei mit Drogen im Gepäck aufgegriffen und mit einer langen Haftstrafe belegt wurde? Er halte das nicht für sehr wahrscheinlich. Der mexikanische Konsul sei im regelmäßigen Austausch mit der Grenzpolizei und erfahre früh von solchen Fällen. Bladis hätte zudem in den fast vier Jahren auch aus einem Gefängnis die Möglichkeit gehabt, seine Familie anzurufen. Außerdem sei Bladis’ Vorname ungewöhnlich, er würde sich sicher erinnern, wenn etwa der mexikanische Konsul von ihm berichtet hätte.
Anderson notiert sich nun die Fallnummern jener männlichen, unbekannten Toten, die seit dem 2. April 2020 im Growler Valley, wo Bladis verschwand, gefunden wurden. Die Karte, aus denen diese Fallnummern stammen, ist öffentlich einsehbar, eine sogenannte Death-Map, auch humanitäre Organisationen und Beamte der Grenzpolizei können dort Fundorte eintragen.
Anderson will sich die Fälle genauer anschauen. Er verspricht, bald Rückmeldung zu geben. Nun müsse er weiterarbeiten. Er will die Knochen des Mädchens abkochen, damit sie ihren Geruch verlieren und statt im Kühlhaus in einem der großen Trailer vor der Gerichtsmedizin gelagert werden können.
Noch am selben Abend kommt die Antwort: negativ. Er habe keinen so großen Mann auf dem Tisch gehabt in den letzten Jahren und auch die Habseligkeiten, die Bladis vor seinem Verschwinden auf dem Hotelbett abfotografiert und seiner Mutter geschickt hatte, waren auf keinem der Post-Mortem-Datenbank-Fotos zu sehen.
Am 16. Dezember bricht wieder ein humanitärer Suchtrupp in das Growler Valley auf. Diesmal in den nördlichen Teil, der zu einem Militärstützpunkt der US-Luftwaffe gehört. Ein Gebiet, in dem nur selten gesucht wird, weil jedes Mal mehrere Wochen im Voraus ein Antrag auf Erlaubnis gestellt werden muss, ein zusätzlicher Aufwand für die gemeinnützigen Gruppen. Als Saraoz davon erfährt, ist da plötzlich wieder Hoffnung, sagt sie.
Am 22. Dezember erhält sie eine Nachricht: Sie haben ihn wieder nicht gefunden.