Was wir aus der Ebola-Epidemie lernen können

Um Ebola zu bekämpfen, musste Sierra Leone vor einigen Jahren Milliardenkredite aufnehmen. Jetzt quält sich das Land mit den Rückzahlungen. Das Geld fehlt im fragilen Gesundheitssektor.

Alicia Prager & Laurence Ivil

erschienen am 30.03.2020, Spiegel Online

Bintu Mansaray legt eine Hand auf die Schulter ihrer sechsjährigen Tochter Dumalo, die über die Toilette gebeugt ist und sich übergibt. Es ist zwei Uhr nachts in der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown. In Gedanken klappert Mansaray die Krankenhäuser der Stadt ab. Keines von ihnen hätte die Kapazitäten, ihrer Tochter im Ernstfall jetzt in der Nacht zu helfen. Das weiß sie aus Erfahrung, Mansaray ist selbst Ärztin. 

Wie fragil das Gesundheitssystem des westafrikanischen Küstenstaates ist, zeigt die Liste jener Länder mit der höchsten Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate der Welt. Sierra Leone steht an dritter Stelle, knapp hinter dem Südsudan und dem Tschad. Ähnliches zeigt die Kindersterblichkeitsstatistik: Jedes zehnte Kind stirbt. 

"Uns fehlen die grundlegendsten Instrumente, um unseren Patienten zu helfen”, sagt Mansaray. Dabei arbeitet sie in einem der besten Krankenhäuser des Landes. Es bräuchte eine breite Investitionsoffensive im Gesundheitssystem, sagt sie. Doch dafür stelle die Regierung zu wenig Budget bereit. Es gäbe schlicht zu viele Baustellen im Land, etwa Bildung, Energie und Infrastruktur.

Die derzeitige Angst vor einer Corona-Epidemie zeigt, wie tief der Schrecken der Ebola-Krise weiterhin sitzt. So ist etwa der Flugverkehr des Landes bereits seit Samstag eingestellt, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch kein einziger Fall in Sierra Leone gemeldet wurde. Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen sind abgesagt. "Europa wird das Virus schnell in den Griff bekommen. Unsere Chancen sind sehr viel schlechter", sagt Mansaray. Sierra Leone könne es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen. 

Denn obwohl der Staat im Kampf gegen Ebola viel gelernt habe, könnten sich nun die versäumten Investitionen rächen, sagt Mansaray. Es fehle an Ressourcen, um eine mögliche Krise zu bewältigen. Etwa hätten die Krankenhäuser zu wenig medizinischen Sauerstoff, ganz zu schweigen von Beatmungsgeräten - davon gibt es im ganzen Land derzeit vier Stück.

Dass zu wenig Geld in Gesundheit investiert wurde, kritisiert auch das Budget Advocacy Network (BAN), eine Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Ausgaben und Einnahmen der Regierung zu prüfen. Zwar verspricht das Finanzministerium, elf Prozent des Budgets in den Gesundheitsbereich zu stecken. Doch Berechnungen von BAN zufolge lagen die tatsächlichen Ausgaben in den vergangenen Jahren weit darunter – 2018 seien es rund sechs Prozent gewesen. 

Bevor das Finanzministerium sein Budget verteilen kann, braucht das Land rund 25 Prozent seiner Staatseinnahmen für die Tilgung seines Schuldenbergs. Dieser wird vom Internationalen Währungsfonds (IWF) als "hoch riskant” eingestuft. 

Hauptgrund der hohen Schulden ist, dass sich Sierra Leone während der Ebola-Krise Milliardenbeträge borgen musste, um die Epidemie in den Griff zu bekommen: Der IWF erließ dem Land damals zwar Schulden im Wert von $29.2 Millionen. Gleichzeitig vergab er aber zwischen 2014 und 2018 neue Kredite im Wert von $328,7 Millionen. Das sollte der Volkswirtschaft durch die Gesundheitskrise helfen, doch die hohen Zinsen bringen heute große Probleme mit sich.

"Das Geld, das für die Tilgung der Schulden gebraucht wird, sollte besser in den Gesundheitssektor gesteckt werden”, sagt BAN-Koordinator Abu Bakarr Kamara und holt einen abgegriffenen Bericht für 2018 hervor. Gemeinsam mit drei Kollegen sitzt er an seinem Schreibtisch in dem kleinen Büro in der Innenstadt von Freetown. 

Die vier Datenspezialisten erzählen von ineffizienten Regierungsstrukturen und Korruption, die die Entwicklung des Landes geißeln. Und sie erzählen, wie schwer die Rückzahlungen von aufgenommen Schulden zusätzlich auf alldem lasten. "Wir haben während der Ebola-Krise gewarnt, dass die neuen Kredite später in eine Schuldenkrise führen werden. Diese bekommt das Land jetzt zu spüren”, sagt Tim Jones von der britischen Organisation Jubilee Debt Campaign.

Von den Rückzahlungen, die Sierra Leone heute leisten muss, gehen rund 30 Prozent an den Weltwährungsfonds, sagt Jones. Und der Betrag steigt: 2022 soll er laut Jubilee Debt Campaign mehr als 40 Prozent betragen. Das führt im Land zu einem drastischen Rückgang der öffentlichen Ausgaben pro Einwohner.

Statt der Regierung in Freetown schultern heute NGOs einen großen Teil der Gesundheitsleistungen. Ohne die Hilfe aus dem Ausland würde die Versorgung kollabieren. Vor fast jedem Krankenhaus steht ein Schild, das seine Geldgeber auflistet. Hinter nahezu jedem Service steht eine Hilfsorganisation. 

Diese Abhängigkeit bringt Unsicherheit. Das geht so weit, dass der sierra-leonische Finanzminister Jacob Jusu Saffa mögliche Zahlungsstopps aus dem Ausland als eines der drei größten Risiken für das Land nennt. 

Das betrifft etwa die NGO "National Emergeny Medical Service" ("NEMS"), die seit etwas mehr als einem Jahr einen Ambulanzservice in Sierra Leone betreibt - kofinanziert von der Weltbank und dem Gesundheitsministerium. Mit 80 Krankenwagen versorgt die Organisation im Monat rund 2000 Patienten. Damit versucht sie eines der größten Probleme im Land zu lösen: die kaum vorhandenen Transportmöglichkeiten im Notfall.

Nun, im März 2020, läuft die Finanzierung durch die Weltbank aus - lange Zeit war nicht klar, ob der Ambulanzservice aufrechterhalten werden kann. Im vergangenen Dezember versprach das Gesundheitsministerium die Weiterfinanzierung. "Ich bin so erleichtert. Das ist alles andere als selbstverständlich hier”, sagt der Leiter der Organisation, Riccardo Buson.

Jetzt, in Vorbereitung auf die wahrscheinlich bevorstehende Corona-Welle im Land, hat NEMS eine eigene Flotte von Krankenwagen zusammengestellt. Jene Ambulanzen, die Corona-Patienten transportieren sollen, werden strikt von den anderen getrennt. Nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr, sondern auch um Vertrauen zu schaffen und zu vermitteln: Es ist weiterhin die beste Option, sich im Notfall ins Krankenhaus bringen zu lassen. Denn bereits jetzt schrecken viele davor zurück, die Rettung zu rufen - aus Angst sich mit dem Coronavirus zu infizieren.

Ein Kampf gegen das Virus dürfte kein leichter werden: Die Gesundheitseinrichtungen des Landes haben kaum genügend Equipment für den Normalbetrieb, geschweige denn für eine Krise. Immer wieder parken die Rettungswagen vor den Krankenhäusern des Landes und helfen mit ihrer Ausstattung. Etwa wenn ein Sauerstoffgerät ausfällt, so wie heute im Krankenhaus King Harman, in dem Ärztin Bintu Mansaray arbeitet.

Mansaray deutet auf einen Arzneikasten auf Rollen, der in einer Ecke steht. Oft rettet sein Inhalt Leben, aber manchmal fehlen sogar die grundlegendsten Medikamente für die Behandlung von Patienten, erzählt sie. Nicht selten legen sie und ihre Kolleginnen Geld zusammen, um aus eigener Tasche Medikamente zu kaufen.

Wegen Verhältnissen wie diesen traten die Ärzte des Landes im vergangenen Jahr in Streik. 13 Tage lang protestierten sie für höhere Einkommen und mehr Investitionen in den Gesundheitssektor. Die Gehälter wurden damals um 200.000 Leonen erhöht, umgerechnet 19 Euro, sagt Mansaray. Viel verbessert hat sich nach dem Streik nicht, kritisiert die Ärztegewerkschaft. Die Ärztin Mansaray verdient heute umgerechnet etwa 740 Euro im Monat.

"Die Ebola-Krise hat der Welt gezeigt, in welchem Zustand unser Gesundheitssystem ist”, sagt Mansaray, als wir das Krankenhaus verlassen. Sie ist erschöpft, wieder hat sie 50 Patientinnen und ihre Kinder betreut - jetzt ist sie auf dem Weg nach Hause zu ihren drei eigenen. "Wenn ich an die Gesundheit meiner Kinder denke, überlege ich, das Land zu verlassen”, sagt sie. Vielleicht zurück nach Großbritannien, dort hat sie einen Master in tropischer Pädiatrie gemacht.

Doch dann schüttelt sie den Kopf. Gebraucht werde sie hier, sagt sie: "Ich kann meine Patientinnen nicht alleine lassen.”