Wohin, wenn das Wasser kommt?
Am härtesten trifft der Klimawandel die Menschen, die ihn am wenigsten verursacht haben. Wie auf den Turtle Islands vor Sierra Leone - dort bereiten sich die Einwohner darauf vor, ihr Zuhause zu verlassen.
von Alicia Prager
Galeh Sesay deutet hinunter in das türkisblaue Wasser neben dem Boot. Genau hier stand einmal ihr Haus, sagt sie. Bis es vor zwei Jahren davongeschwemmt wurde. Von der Insel Nyangai, auf der Sesay vor 32 Jahren geborgen wurde, schauen heute nur noch zwei Flecken aus dem Atlantik, je etwa in der Größe von zwei Fußballfeldern. "Das Wasser hat uns dazu gezwungen, wegzuziehen", sagt sie.
Die Turtle Islands, ein Archipel vor der Küste von Sierra Leone, versinken langsam im Meer. Am weitesten fortgeschritten ist die Erosion von Nyangai. Bei Flut müssen die Bewohner bereits durch knietiefes Wasser waten, um von einer Seite der Insel zur anderen zu gelangen. Dort, wo der Sand trocken bleibt, reiht sich eine Hütte an die nächste. Da laufen Ziegen und Hühner zwischen den weißen Planen umher, die um die Holzgerüste der Häuschen gespannt sind. Fischer flicken sorgfältig ihre Netze. Eine Frau verkauft frittierte Reisbällchen, die sie in einem durchsichtigen Kübel mit sich herumträgt.
Wie bereits Galeh Sesay musste auch Sulaiman Kabba die Insel vor Kurzem verlassen. Heute ist er zu Besuch von einer Nachbarinsel hierhergekommen. Er sitzt vor seiner früheren Hütte, die an einer Ecke der Insel steht. Während der Regenzeit schwappen die Wellen bis hierher, erzählt er und deutet auf einige Muscheln, die über den sandigen Boden der Hütte verstreut liegen. "Das Meer frisst ein Haus nach dem anderen", sagt Kabba.
Rund fünfhundert Menschen mussten Nyangai deshalb in letzten Jahren verlassen, sagen die Bewohner. Die meisten von ihnen sind auf die größeren Nachbarinseln ausgewichen, die zwar ebenfalls langsam zerrinnen, aber wo die Erosion noch viel weniger weit fortgeschritten ist.
Eine dieser Inseln ist Bumpetuk, wo Sesay heute wohnt. Man erreicht sie nach einer halbstündigen Fahrt in einem der traditionellen Boote. "Wir sind fürs Erste sicher, aber eine Zukunft gibt es hier nicht. Sobald wir genug Geld gespart haben, werden wir aufs Festland ziehen. Nach Waterloo, in die Nähe der Hauptstadt." Sie sitzt vor ihrer Hütte und steckt einen Fisch mit gelben Flossenspitzen auf ein Holzstäbchen, um ihn nachher auf den Rost über der Feuerstelle zu legen. Kühlschränke gibt es in dieser abgelegenen Region Sierra Leones nicht. Daher müssen Fische geräuchert werden, um sie haltbar zu machen. Sie sind die Hauptnahrungsquelle auf den Inseln, auf denen kaum Landwirtschaft betrieben werden kann.
Doch der Fischfang wurde über die vergangenen Jahre zunehmend schlechter. "Früher hatten wir sechs Monate Regen, sechs Monate Sonne. Das ist heute nicht mehr so", sagt Sesay. Oft können Fischerboote wegen Wetterumbrüchen nicht aufs Meer hinausfahren. Immer wieder werden Fischer von Nebel oder Stürmen überrascht. Sie können das Wetter immer schwerer einschätzen.
Ein Schutzwall und viel Hoffnung
Auf einer anderen Insel näher am Festland liegt Bonthe, mit 10.000 Einwohnern die größte Ortschaft der Region. Sie versucht, sich mit einem neuen Schutzwall vor dem Meereswasser zu schützen. Die erste Steinreihe der Mauer ist bereits gelegt. 1.720 Meter soll sie einmal lang sein und Bonthe auch in den kommenden Jahren trocken halten. Es ist das erste Projekt seiner Art in Sierra Leone: eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte Maßnahme zum Schutz vor Erosion.
"Wir haben gesehen, was in Nyangai passiert und wussten, dass wir alles dagegen tun müssen, um diese Entwicklung aufzuhalten", sagt Layemin Joe Sandi, der Bürgermeister des Ortes. Er steht auf der Küstenpromenade, ein Bagger rollt über den frisch aufgeschütteten Sand. Den Klimawandel könne man hier nicht stoppen, so Sandi. Das müssten größere Staaten in die Hand nehmen, aber er wolle Verantwortung übernehmen, die lokalen Folgen so gut wie möglich abzufangen. Etwa sollen neben dem Schutzwall viele neue Mangroven gepflanzt werden.
Vor ähnlichen Herausforderungen stehen die Bewohner entlang der gesamten Küste. Doch in Sierra Leone, einem der ärmsten Länder der Welt, fehlt es an Geld für Maßnahmen zum Schutz vor den Folgen des Klimawandels. Die Fischer auf den Turtle Islands etwa haben keine Ersparnisse, die einen Neustart anderswo möglich machen könnten.
Ausgleich für Klimaschäden
Erst im vergangenen Jahr beschloss die Regierung, ein Umweltministerium einzurichten. "Jetzt wollen wir die verschiedenen Anstrengungen besser koordinieren", sagt Foday Jaward am Telefon. Seit Ende November ist er der erste Umweltminister des Landes. "Damit wollen wir auch unsere Rolle in internationalen Klimaverhandlungen stärken", erklärt er.
Denn Sierra Leone fordert gemeinsam mit vielen anderen Entwicklungsstaaten mehr finanzielle Unterstützung für den Kampf gegen den Klimawandel. Das Argument: Die, die am wenigsten zur Erderwärmung beitragen, ihre Konsequenzen aber bereits am härtesten zu spüren bekommen, sollen nicht auch noch für die Folgen zahlen müssen.
Zwar gibt es dafür bereits einige internationale Töpfe. Doch reichen die Mittel bei Weitem nicht aus und sind an komplizierte Bewerbungen geknüpft. "Wir haben einfach oft nicht die Kapazitäten, um alle gestellten Auflagen zu erfüllen", sagt Gabriel Kpaka, der Leiter der meteorologischen Agentur von Sierra Leone und Vertreter des Landes bei den Uno-Klimaverhandlungen.
Bisher wird das vorhandene Budget außerdem nur an Projekte vergeben, die auf die Anpassung an den Klimawandel oder die Bekämpfung seiner Ursachen abzielen. Jetzt wird diskutiert, was in Fällen passieren soll, wenn irreversible Schäden auftreten - zum Beispiel, wenn Inselgruppen im Meer versinken. Risiken besser verstehen Eine Gruppe von Uno-Verhandlern, zu der auch Kpaka gehört, will einen neuen Mechanismus einrichten, der wie eine Art Versicherung für Klimaschäden funktionieren könnte. Dafür soll ein Fonds auf Uno-Ebene gefüllt werden. Die Grundidee: Die Industrieländer, die viel zum Klimawandel beitragen, kommen für die Folgen in Staaten wie Sierra Leone auf.
Auch auf der letzten großen Klimakonferenz in Madrid im Dezember 2019, stand das Thema auf der Agenda - ein Beschluss wurde aber vertagt. Immerhin, so meint Kpaka, einigte man sich etwa darauf, künftig Wissen international besser auszutauschen: Unter dem Namen "Santiago Network" – nach der Hauptstadt Chiles, wo der Gipfel ursprünglich geplant war – wollen sich Länder in Zukunft gegenseitig unterstützen, Klimarisiken besser einzuschätzen.
Warum das wichtig ist, zeigt das Beispiel der Turtle Islands: Die Sandbänke in der Region sind schon immer in Bewegung, Inseln entstehen und zerfallen wieder, das ist ein natürlicher Prozess. Die extremeren Wetterbedingungen hingegen, denen die Inseln ausgesetzt sind und die das Fischen erschweren, dürften klimabezogen sein, so etwa eine Studie der sierra-leonischen Umweltschutzagentur. Um aber die richtigen Antworten auf die Veränderungen zu finden, müsse man mehr darüber wissen, auf welche Herausforderungen man sich konkret vorbereiten müsse, schreibt die Agentur. Das sei hier an der westafrikanischen Küste nur lückenhaft erforscht, zu wenige Daten stünden zur Verfügung.
Um kurzfristig auszuhelfen, will die meteorologische Agentur Fischern dreimal am Tag die aktuelle Wettervorhersage für ihre Umgebung schicken. Dazu stellt die Agentur pro Insel ein Handy mit Guthaben zur Verfügung, auf das sie die regelmäßigen Updates sendet.
Fischer wie Kabbah können sich dann bei der Anlaufstelle auf ihrer Insel vergewissern, dass kein unerwartetes Unwetter oder Nebel überrascht. "Die meisten von uns können nicht schwimmen, da ist es gut, wenn man auf Nummer sicher gehen kann." Aber was, wenn das Wetter einfach zu oft schlecht ist? Kabba stellt sich diese Frage oft. "Wir brauchen etwas zu essen", sagt er. Er muss aufs Meer fahren, auch wenn es manchmal riskant ist. Eine orange Schwimmweste liegt in seiner Hütte auf der Insel Bumpetuk schon bereit.