Coming Out
Es war ein Kind, das gerne mit den Puppen der Schwester spielte und weinte, wenn man ihm die Haare schnitt. Jahre später dann ein Mordversuch. Die Geschichte von einer, die lange im falschen Körper im falschen Knast war
Bartholomäus von Laffert
PROLOG Als den Verantwortlichen am Boden klar wird, dass die Schwerverbrecher im Gefangenentransportflugzeug die Maschine gekapert haben und drauf und dran sind, sich gen Ausland abzusetzen, bricht ein heftiger Streit zwischen ihnen aus. Der Chef der Drogenfahndung
pocht drauf, den Flieger ohne Rücksicht auf Verluste vom Himmel zu schießen: Die Häftlinge seien ohnehin Bestien, zu denen sie wurden, als sie aufhörten, nach Gesetzen zu leben und die Zivilisation zu achten. Der US-Marshall Vince Larkin entgegnet ihm: „Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man am Zustand ihrer Gefangenen.“
Den Satz aus dem Film „Con Air“ solle man einmal mitbedenken, sagt Michelle, bevor sie ihre Geschichte erzählt. Nicht als Rechtfertigung oder so was. Aber keiner, der in Österreich im „Häfn“ sitzt, sei ganz alleine dran schuld, sagt sie. Ihre langen braunen Haare hängen frisch gewaschen über die Schulter, unscheinbar glitzern schwarze Stoppeln an Oberlippe und Kinn, sie trägt Bademantel in Neonpink. Darunter ein Körper, 33 erst, aber kaum mehr intakt. Der schiefe Rücken, die Hepatitis, die Messerstechernarben an Ellbogen und Leiste. Seit siebzehn Jahren sitzt sie ein, seit drei Wochen in UDU, Unterbrechung der Unterbringung, betreutes Wohnen für Strafgefangene sozusagen. Zwei mal zehn Meter plus Küchenleiste in einem unscheinbaren Wohnhaus am Rand von Wien, das sie nur einmal morgens für den Arbeitsweg und einmal zum Einkaufen am Nachmittag verlassen darf. Am Fußende des Bettes steht ein Fernseher, auf dem flimmert der ORF-Teletext, Seite 176, nur vorsichtshalber schaut Michelle einmal nach: THAILAND BATH 36,1924 = 1 Euro.
Als Michelle im Juni 2003 in Korneuburg bei Wien wegen versuchten Mordes und schweren Raubs verurteilt wurde, da bekam man für einen Euro noch 49 Bath, Michelle war gerade siebzehn, trug die Haare kurz und hieß Michael. Michelle steht erst seit wenigen Monaten in ihrem Pass und auch, dass das Geschlecht weiblich ist. Und wer weiß, sagt Michelle, natürlich sind das nur Spekulationen, aber hätte sie den Michael schon früher weggemacht, dann wäre einigen Menschen eine Menge erspart geblieben. Vielleicht wäre Michelle dann an jenem Abend im September 2002 mit Freunden in ein Wiener Kaffeehaus gegangen oder zum Biertrinken an den Donaukanal und wäre nicht in ein niederösterreichisches Kuhkaff gefahren mit dem Plan, der Zahnarzt-Witwe Helene H. den Garaus zu machen. Aber von vorn.