Abdullas Puppe
Familiennachzug, die Wirklichkeit: Zu Besuch bei einem neunjährigen Jungen, der mit seiner Mutter und den Geschwistern seit drei Jahren in einem Flüchtlings camp im Libanon lebt. Und bei seinem Vater in einem Wohnheim in Berlin
Text: Ann Esswein, Bilder: Felie Zernack
Erschienen am: 05.02.2019 im Süddeutsche Zeitung Magazin Familie
Farfour trägt seine schönsten Kleider: eine bunte Hose, eine zitronengelbe Mütze, rote Handschuhe. Er ist bereit für die große Reise nach Deutschland. Seine Backen sind rot, als wäre er aufgeregt. Die Augenbrauen hat er neugierig hochgezogen. Er fällt auf, im Flüchtlingscamp Nahr Al-Bared im Norden des Libanon. Er ist immer noch ein Fremder hier. Eigentlich kommt er aus Deutschland. Abdulla wird ihn wieder nach Hause bringen, das hat ihm der Neunjährige versprochen. Seit drei Jahren sind die Koffer gepackt. Seit drei Jahren warten sie.
Farfour ist Abdullas Handpuppe. Nachts schläft er neben ihm. Tagsüber begleitet er den Neunjährigen durch die staubigen Gassen des Flüchtlingscamps. Die Puppe ist Abdullas treuester Begleiter, sein bester Freund. „Wie ein fünftes Kind!“, sagt Mufid Alkhtib zur lächelnden Puppe, Abdullas Vater. Doch Mufid Alkhtib kennt die Puppe nur von Handyfotos. Seit drei Jahren wartet der 53-Jährige in Berlin darauf, seine Familie nach Deutschland holen zu dürfen.
Wenn Abdulla Fragen hat, fragt er seine Puppe Farfour. Und auf die meisten Fragen weiß die Puppe auch eine Antwort, mit der Stimme seiner Mutter. Sie erklärt, dass 5000 Kilometer zwischen ihnen und dem Vater liegen. Dass sie acht Länder durchqueren müssten, um ihn zu sehen. Dass sie eigentlich nur eine Nachricht bräuchten aus dem Land, in dem die Leute über Geflüchtete wie ihn aber gerade streiten. Seit kurzem tragen Bekannte und Nachbarn ihre gepackten Koffer aus dem Camp. ,„Wir müssen nur noch etwas warten“, erklärt die Handpuppe dann und wackelt mit dem Holzkopf. „Wie lange noch?“, fragt Abdulla. Aber darauf weiß auch Farfour keine Antwort.
Im deutschen Aufenthaltsrecht steht geschrieben, dass jeder Geflüchtete, der nach Deutschland kommt, seine engsten Verwandten nachholen kann. Im Grundgesetz liest man, dass der Zusammenhalt der Familie in Deutschland unter besonderem Schutz steht. Aber dieses Recht ist für Geflüchtete wie Abdullahs Vater seit 2016 auf Eis gelegt. Weil die Zahlen der Asylbewerber immer weiter stiegen, setzte die Bundesregierung damals das Recht auf Familienzusammenführung für subsidiär Geflüchtete aus. „Subsidiärer Schutz“, so wird das Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge wie Abdullahs Vater genannt. Für rund 34 00 Geflüchtete wurde das Warten auf einen Termin bei den deutschen Auslandsvertretungen Alltag, genauso wie die täglichen Skype-Telefonate. Die Familien organisieren sich ein provisorisches Familienleben, dem Pingpongspiel deutscher Innenpolitik ständig ausgesetzt ist. Durch die Nachrichten rieseln täglich Wörter wie „Obergrenze“, „Flüchtlingsströme“, „Überfremdung“, auf die Wartenden in Deutschland hinab. Und sie drängeln sich auch in die Camps in den Libanon hinein.
Von der Asyldebatte in Deutschland versteht der neunjährige Abdullah nur wenig. Gedankenverloren trägt er im Flüchlingscamp Nahr Al-Bared eine gelbe Blume spazieren, hinterlässt Blütenblätterspuren auf dem Geröll. Schutzsuchend greift er die Hand seiner Mutter Raghda Abu Zamel. Es riecht nach Motoröl, Staub kitzelt in der Nase. In der Ferne rauscht das Meer und spült Müll an den Strand. Ein paar Kinder turnen auf eingefallenen Häusern, Abdulla aber hält seine Mutter fest an der Hand. Sie hat Angst, wenn er mit den anderen Kindern spielt. Stattdessen malt er oft, am liebsten Panzer und Waffen. Raghda Abu Zamel, seine Mutter sagt, Abdulla sei ein fröhliches Kind. „Er weint fast nie“, sagt sie und streichelt ihm über die kurzen, braunen Haare. Und dann versucht sie sich wieder zu erklären, weshalb sie aus Damaskus fliehen musste. „Überall Einschusslöcher, überall Konflikte und überall Müllberge, man kann in dieser Umgebung keine vier Kinder groß ziehen“.
Fragt Raghda Abu Zamel ihren jüngsten Sohn, erinnert sich Abdulla kaum an die Zeit davor: an die Wohnung in Damaskus, ausgestattet wie eine kleine, eigene Schule oder an das Spielzimmer voller Puppen. Farfour hätte sich wohlgefühlt. Abdulla hatte damals zwar noch keine Handpuppe, aber dafür Freunde an jeder Straßenecke. Und den Vater. Eines der wenigen Fotos, die nicht verschüttet wurden und auch im Camp noch in Besitz der Familie sind, zeigen Vater und Sohn nebeneinander. „Ich möchte einmal so groß werden wie du“, hat der dreijährige Abdulla damals angeblich zu seinem Vater gesagt, zu dem er auf dem Foto glücklich aufschaut. Vater Mufid Alkhtib, 43, Schnurrbart und dunkle, dichte Haare, ist Anästhesist und jemand der sich schon früh um die Zukunft und Bildung seiner Kinder sorgt. Dann kommt der Krieg. Als das Haus bombardiert wird, fliegt Abdulla durch die Luft, wie ein Vogel.
Die Schwestern der Mutter und ihre Kinder fliehen in das Nachbarland Libanon. Wochenweise kommt Abdullas Vater zu Besuch, bringt Geschenke und geflüsterte Erzählungen mit. Plötzlich sind die Grenzen dicht. Mufid Alkhtib kann nicht mehr nach Syrien zurück. Gemeinsam fallen die Eltern die Entscheidung, dass der Vater vorgehen soll. Das Ziel: Deutschland, wo sich das bessere Leben scheinbar an einer Hand abzählen lässt. Sicherheit, Schule, Universität, Gesundheit und Arbeit. Abdulla ist fünf, als sein Vater aufbricht. Seitdem hat er sein Gesicht nur noch auf dem Handybildschirm gesehen.
Gemeinsam mit mehreren tausend Geflüchteten und nicht mehr als einem Rucksack kommt Mufid Alkhtib im Spätsommer 2015 in Deutschland an. Auf dem ersten Foto nach seiner Ankunft steht er in einer Regenjacke vor einer Kleiderkammer. Er sieht klein aus, abgemagert. „Kauf dir ordentliche Klamotten“, schreibt ihm seine Frau. Am ersten Schultag in Deutschland schickt Mufid Alkhtib seiner Familie ein Foto von sich im Schnee. Was Schnee ist versteht Abdullah genauso wenig wie die Tatsache, dass sein Vater in die Schule gehen muss, um eine neue Sprache zu lernen. Hungrig sei er, schreibt der Vater per Whatsapp, ihm sei kalt, und überhaupt. Dass er sauer sei auf die deutsche Regierung, schreibt er irgendwann, die ihm ein scheinbar falsches Versprechen gab. Zu diesem Zeitpunkt denkt Mufid Alkhtib, es würde maximal ein halbes Jahr dauern, bis er seine Familie nachholen kann. Dann kommt diesem Wunsch das Asylpaket II in die Quere: 2016 wird der Familiennachzug für subsidiär Geflüchtete für zwei Jahre ausgesetzt.
Es muss ungefähr in dieser Zeit gewesen sein, als in einem Second-Hand-Laden im Flüchtlingscamp Nahr al-Bared, die Puppe Farfour in das Leben der Familie Alkhtib tritt. Sie liegt Mitten in einem Haufen getragener und gespendeter Kleidung aus aller Welt und lächelt Abdullas Mutter entgegen. Eine Handpuppe, made in Germany. Raghda Abu Zamel ist Lehrerin. Sie weiß, ihre Kinder brauchen Ablenkung, ganz besonders Abdullah. Als es kalt wird, näht sie der Puppe rote Handschuhe.
Wenn Abdulla einsam ist, spricht er mit ihr. Nur sauer wird Farfour nie. Raghda Abu Zamel gibt der Handpuppe eine wichtige Funktion: wenn ihr die Worte fehlen, erklärt sie Abdulla stellvertretend die schwierige Situation. Zum Beispiel, dass der Libanon auf die Bevölkerungszahl gerechnet der großzügigste Gastgeber für Geflüchtete weltweit ist. Dass all die Ankommenden unterschiedliche Dinge glauben und dass das zu Streit führen kann. Dass es eben frustrierend ist, wenn man jahrelang an einem Ort eingepfercht ist, an dem man nicht arbeiten oder richtig leben darf.
Raghda Abu Zamel selbst weiß, dass nicht einmal die Regierung will, dass sie im Libanon bleiben. Sie klammert sich an ihre Handtasche aus Lederimitat. Für die 43-Jährige ist sie wie eine Tarnung: Wer eine Handtasche trägt, der sieht nicht sofort aus wie ein Geflüchteter. Nur in ihrer Familie fühle sie sich sicher. Es ist eine Zwickmühle, die sie nicht einmal mit Farfour ihrem jüngsten Sohn erklären kann. Die Handpuppe hängt lächelnd unter dem Arm von Abdulla, während sie entlang derselben Hauptstraße laufen, über die sie damals mit rund einer Million anderer syrischer Flüchtlinge im Libanon ankamen. Bis zur Grenze sind es knapp 20 Kilometer. Lastwagen rauschen vorbei. Inmitten von Werkstätten liegt ein nobles Café. Es gibt Baklava auf Silbertabletts. Pralinen türmen sich im Hintergrund. Abdulla stochert mit der Gabel in seinem Dessert und nimmt keinen Bissen. Ein Stuhl am Tisch bleibt unbesetzt. „Er schaut immer dorthin, wo der Vater saß“, sagt Abdullas älteste Schwester Bayan, um die sich die Familie am meisten Sorgen macht.
Bayan trägt ein mintgrünes Kopftuch und eine Brille mit dickem, schwarzem Rahmen. Der Vater gab der Erstgeborenen den Name Bayan. Es bedeutet „die mit der starken Stimme, die Schreiende, die damit alle überzeugt“. Als sie 18 Jahre alt wird, hört sie für Wochen auf zu sprechen, aus Angst. Glaubt man dem deutschen Aufenthaltsgesetz bedeutet ihre Volljährigkeit, dass sie nicht mehr zur Kernfamilie gehört. Noch strenger steht es auf der Seite der deutschen Botschaft in Beirut: „mit 18 Jahren erlischt das Recht auf die Familie“. Auch wenn die Familie den positiven Bescheid der Botschaft bekäme, dürfe sie nicht mit nach Deutschland nachziehen. Bayan zupft an der Tischdecke, als sie sagt, sie könne niemals ohne die Familie bleiben. Sie habe niemand, der sich um sich kümmern würde.
Auf dieser Seite der Erde sei Familie eben abhängiger voneinander, sagt Anaelle Saadeh über ein sehr häufiges Dilemma wie das der Familie Abu Zamel. Saadeh, schwarze Locken und beige Weste, ist Psychologin bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Wir treffen sie in der Klinik Dar Al Zahraa, ein staubiges Randgebiet in der nächstgelegenen Stadt Tripoli und dennoch so weit, dass Patienten nur selten psychologische Hilfe hier aufsuchen. Sie kommt gerade von einem Einsatz an der syrischen Grenze zurück ins Camp und begrüßt die wartenden Patienten. Viele kämen mit sogenannten „nicht-erklärbaren Symptomen“ in die Klinik: Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Kopfweh. Geflüchtete, die nicht mehr sprechen können oder wollen, wie Abdullas Schwester Bayan. Es sind Indikatoren einer posttraumatischen Belastungsstörung. Für viele Geflüchtete ist die Familie das einzige Auffangbecken. Beschäftigung und Stress wäre ein gutes Zeichen. Das Gegenteil ist: absolute Ohnmacht.
Saadeh sagt auch, dass es gut ist, wenn Kinder beschäftigt bleiben und sie über die traumatisierende Erfahrung sprechen können. Es ist Farfours Rolle. Eine Bande Kämpfer nennt Raghda Abu Zamel ihre Familie und sich selbst die Führerin. Und das kann man tatsächlich auch sehen. An ihrem Schritt, in ihrem knöchellangen, blauen Mantel, in dem sie durch die Straßen des Flüchtlingscamps schreitet. Sie trägt das rote Kopftuch eng um das runde Gesicht, eine Brille mit Glitzerschmetterlingen, ein Taschentuch ständig in der Hand, falls sie die Traurigkeit überkommt. Die Nachbarn kennen Raghda Abu Zamel als die Lehrerin, die sich für Organisationen einsetzt, die Kunstunterricht gibt, ihre eigenen Kinder aber nicht in die Schule schicken will, weil sie dem Unterricht misstraut - aber auch als die Frau ohne Mann. Erst im Camp hätte sie gelernt unhöflich zu sein. Seit Jahren sei sie wie eine alleinerziehende Mutter.
In der fensterlosen Küche in ihrer Wohnung brodelt ein Topf mit Milucha, ein Reisgericht aus der Heimat. An den Wänden hängen Gemälde, die Raghda Abu Zamel selbst malte. Neben der Küchenzeile steht eine kaputte Waschmaschine. Es gibt niemand, der sie reparieren könnte. Das einzige Überbleibsel des Vaters ist ein selbstgeschreinertes Bücherregal. Der Vater wollte, dass Abdulla eines Tages Ingenieur wird. Der Neunjährige selbst hat andere Pläne: Er will Landwirt werden, sagt er und weil er auf seinem Hof einen Tierarzt für sein Vieh braucht, erklärt er die Handpuppe zum Veterinär.
Neben dem Alltag seine es die Themen Entwicklung, Bildung und Regeln, die sie am meisten beschäftigten, sagt Raghad Abu Zamel. Und die Fragen dazu ließen sich eben nur schwer über Whatsapp regeln. Seit drei Jahren erzieht sie ihre Kinder nun schon allein. Dabei hätte sie sich gewünscht, dass ihr Mann die Stimme erhoben hätte, als ihr ältester Sohn Ahmad die Schule abbrach. Oder dass er da gewesen wäre, als Abdullah für eine Woche wegen einer Trinkwasservergiftung ins Krankenhaus musste. Manchmal verheimlicht sie ihrem Mann auch schwierige Momente. Je länger das Warten dauert, desto mehr Angst habe sie um den Zusammenhalt, um die Zukunft ihrer Familie.
Und auch Abdullas Vater Mufid Alkhtib umtreibt diese Angst, während er in Berlin sitzt und wartet. Für ihn ist es wie ein Gesetz, dass Familien zusammen bleiben, mindestens bis die Kinder verheiratet sind. Unabhängige Kinder, getrennte Paare, ältere Menschen in Altersheimen, das alles kennt er nicht, es ist neu für ihn, wie so vieles in Deutschland, erzählt er Anfang des Jahres. Es ist Juni, als die Reporterin ihn wieder trifft. Noch immer trägt er seinen Wintermantel. Der Schulranzen hängt ihm lose von den Schultern, er kommt vom Sprachunterricht. Nieselregen fällt auf das lichte Haar. Mit beiden Händen hält Mufid Alkhtib sein Smartphone fest. Wieder keine Nachricht von der Familie. Unsicher sieht er auf den U-Bahnfahrplan. Seine Wohnung verlässt er nur, um Deutsch zu lernen, um in Zukunft damit eine Arbeit zu finden. Er will seine Familie nicht weiter enttäuschen.
Abdullah sieht auf den Whatsapp-Bildern, wie sein Vater sich in der Zwischenzeit verändert: Seit er in Deutschland lebt, hat er 30 Kilo abgenommen, die Haare sind grau geworden. Er raucht, er trinkt Kaffee, er wartet. So beschreibt Mufid Alkhtib selbst seinen Alltag, der nur unterbrochen wird durch das piepende Handy. Per Sprachnachricht erzählt Abdulla ihm vom Streit mit seinen Brüdern, spricht ihm auswendig ein Vers aus dem Koran vor, schickt ihm Herz-Symbole. Mufid Alkhtib aber schweigt oft am anderen Ende. Manchmal wisse er überhaupt nicht, was er erzählen soll. Chaos sei in seinem Herzen, seit er seine Heimat verließ.
Mufid, das bedeutet im Arabischen „der Nützliche“. Das frühere Familienoberhaupt sitzt mit hängenden Armen auf der Couch in seinem Esszimmer in einer Wohnung eines christlichen Trägers im Berliner Stadtteil Pankow. Immer wieder geht die Tür auf, Mitbewohner kommen herein, machen sich schweigend etwas zu essen. Alle Männer in der Wohnung warten seit mindestens zwei Jahren auf ihre Familien. Es ist ein ständiges Thema am Küchentisch. Erst als die Männer den Raum verlassen, spricht es Mufid Alkhtib aus: Es ist ein Monat her, dass er und seine Frau das letzte Mal sprachen. Er zuckt mit den Schultern und blickt nach Draußen. Die lange Wartezeit mache seine Frau sauer. Mufid Alkhtibs dreht seinen Ehering am Finger. Seit drei Jahren hätte er ihn nicht ausgezogen. Er spüre, dass seine Frau sich trennen will. Es drücke ihm auf den Atem, wenn er mit ihr telefoniere. Er fühlt sich schuldig. Streng sei sie, traurig und enttäuscht aber eben auch eine große Frau.
Rund 5000 Kilometer entfernt fährt Raghda Abu Zamel alleine mit dem Bus drei Stunden in die Hauptstadt Beirut, sucht Beratung, erkundigt sich, was mit ihrem Antrag passiert ist. Sie hat neue Hoffnung. Aus den Fernsehnachrichten weiß sie, dass in Deutschland im August ein neues Gesetz in Kraft trat. Die Bundesregierung entschied, den Familiennachzug weiterzuführen, wenn auch limitiert. 1000 Geflüchtete dürfen pro Monat nach Deutschland zu ihren Familien nachziehen. Im Flüchtlingscamp wird über die Kriterien gemutmaßt. Raghda Abu Zamel weiß, es wird noch lange dauern, bis ihre Familie nach Deutschland nachziehen kann. Aber wieder einmal wird Farfour hübsch gemacht, neue Kleidung genäht, die gepackten Koffer abgestaubt. Alleine die Ankündigung verändert das Warten.
Kurz nachdem das Gesetz in Kraft tritt treffen wir Mufid Alkhtib wieder. Er sitzt auf derselben Couch nur der Rest der Küche wirkt plötzlich belebt: Ein Kalender mit Lebensweisheiten hängt an der Wand, auf einer Plastiktischdecke steht eine Schale Obst neben einem Aschenbecher. Geranien hängen vom Balkon. Er wirkt, als hätte er sich in einem deutschen Haushalt eingerichtet, dabei fehlt ihm genau das, um wirklich anzukommen: seine Familie. In der Wohnung riecht es nach überbackenem Käse. Per Youtube hat er sich selbst beigebracht, wie man Pizza zubereitet, als würde er sich auf die Ankunft seiner Familie vorbereiten.
Seit das Thema Familiennachzug wieder präsent ist, spräche er wieder mit seiner Frau. Wenn seine Familie hier wäre, dann würden sie noch einmal von vorne ein neues Leben beginnen. Er lächelt, wenn er sich die Vorstellung ausmalt: In eine neue Wohnung würden sie ziehen. Jeden in seinem Viertel würde er kennen. Die Kinder würden zur Schule gehen und studieren. Abdulla würde das Leben hier mögen, sagt der Vater. Das Spazierengehen durch das Viertel, die hohen Bäume. Er hat ihm eine Katze versprochen.
Das aufgestellte Tablet neben dem Pizzablech klingelt. Wie ein Neugeborenes nimmt Mufid Alkhtib das Gerät in die Hand. „Alles Gute“, sagt er in den Bildschirm. Es ist Abdullas dritter Geburtstag, den er ohne seinen Vater feiert. Der Tag, an dem ihm ein neuer Zahn wuchs. Abdulla lächelt in die Kamera und zeigt sein Gebiss. Mufids Alkhtib überschlagene Beine wippen unter dem Küchentisch, er schweigt und lächelt. Es sei ein dünner Faden zwischen ihm und seinen Kindern. Er wolle den Faden nicht verlieren.
„Wie geht es Farfour?“, fragt der Vater in das Tablet, als wäre es nur eine andere Art zu fragen: „Wie geht es dir mit dem Warten?“
Abdulla hält die lächelnde Puppe im Arm. „Gut“, sagt er dieses Mal.