Die Jägerin: Eine Frau gegen die brutalsten Menschenhändler der Welt

von Paul Hildebrandt und Lucia Heisterkamp

erschienen im SZ-Magazin, 29/2022

In Libyen haben Menschen­händler eine besonders perfide Methode entwickelt, um Geld zu verdienen: Sie foltern Flüchtlinge, um von deren Angehörigen Lösegeld zu erpressen. Meron Estefanos führt einen erbitterten Kampf gegen die Verbrecher.

Die Zentrale der Frau, die einige der schlimmsten Menschenhändler der Welt vor Gericht gebracht hat, liegt in einem ruhigen Vorort von Stockholm. Dritter Stock, ein spärlich beleuchtetes Wohnzimmer mit schwarzer Ledercouch. Es gibt hier keine Schreibtische mit Computern, keine Regale voller Aktenordner. Nichts deutet darauf hin, dass Meron Estefanos, 48 Jahre, Mutter von zwei Kindern, geschafft hat, woran Behörden aus Europa seit Jahren scheitern. Ihr Werkzeug liegt vor ihr auf dem Couchtisch. Ein Smartphone.

Seit Jahren werden in Libyen geflüchtete Menschen entführt, gefoltert und die Angehörigen um Lösegeld erpresst. Estefanos’ Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die gescheiterte Arbeit europäischer Behörden gegen diesen Menschenhandel in Libyen. Sie erzählt von Ermittlern, die sich nicht für die Opfer zu interessieren scheinen, von Staatsanwälten, die Unschuldige ins Gefängnis sperren und Täter unbehelligt lassen, von Politikern, die dem Leid untätig zuschauen.

Sie führt von Eritrea, wo jedes Jahr Tausende Menschen fliehen, nach Libyen, wo Flüchtlinge verschleppt und gefoltert werden. Sie führt nach Schweden und Deutschland, wo Angehörige von Flüchtenden erpresst werden. Und nach Äthiopien, wo einer der meistgesuchten Menschenhändler der Welt schließlich vor Gericht steht.

Was Meron Estefanos erzählt, klingt unglaublich: Nur mithilfe ihres Telefons will sie Verbrecher gejagt haben, die mit Folter reich geworden sind. Um die Geschichte zu verifizieren, haben wir mit Ermittlern gesprochen, mit Wissenschaftlerinnen und Aktivisten. Wir haben Berichte gesammelt, Gerichtsakten studiert und Zeugen befragt.

Verlängerter Arm: Ihr Smartphone ist das wichtigste Werkzeug von Meron Estefanos.

Eine Frau allein gegen ein Netz von brutalen Menschenhändlern. Für viele Menschen ist die Frau im dritten Stock eine Heldin. Doch der Preis, den Estefanos für ihren Kampf gezahlt hat, ist hoch.

Ihre Geschichte, so schildert sie es, beginnt mit einem Anruf. »Hallo, hier ist Meron Estefanos, wer ist da?« Die Verbindung rauscht, dann spricht ein Mann. »Wir sind in einem Keller unter der Erde. Sie haben uns gefesselt. Drei von uns wurden nach oben gebracht, wir haben von draußen ihre Schreie gehört. Jetzt wissen wir nicht, ob sie tot sind.« Der Mann spricht schnell und hektisch. »Die kommen einmal pro Stunde. Und sie foltern uns. Abends, nach vielen Stunden Misshandlungen, geben sie uns ein Stück Brot und ein bisschen Wasser. Wir wurden so stark gefoltert, dass wir überall auf unseren Rücken Wunden haben. Wir warten darauf zu sterben.«

Es war der 9. Februar 2011, als Meron Estefanos dieses Gespräch führte. Die Nummer, die sie damals gewählt hatte, begann mit einer ägyptischen Vorwahl. Der Mann am anderen Ende der Leitung sprach ihre Muttersprache: Tigrinya, die Sprache Eritreas. Estefanos arbeitete zu dieser Zeit bei einem Radiosender für Exil-Eritreer. Aus ihrer Küche in Stockholm berichtete sie von den Opfern der Diktatur und von den Schicksalen der Menschen auf der Flucht. Eritrea gilt als eine der brutalsten Diktaturen der Welt, ein UNO-Bericht spricht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit: willkürlichen Festnahmen, Folter, Sklavenhaltung. Mehr als eine halbe Million Menschen ist inden vergangenen zwanzig Jahren von dort geflohen.

Estefanos wurde in dem kleinen Land am Horn von Afrika geboren, als Jugendliche kam sie nach Schweden. Schon da hat sie Spenden gesammelt und in Stockholms Innenstadt Flyer gegen die Diktatur verteilt. Als Aktivistin war sie es gewohnt, schlimme Geschichtenzu hören. Doch dieser Anruf sollte ihr Leben verändern.

Ein Bekannter aus der eritreischen Community hatte ihr die Nummer gegeben und gesagt: »Mein Cousin wird auf dem Sinai festgehalten und gefoltert, sie wollen 20 000 Dollar Lösegeld. Wenn du mir nicht glaubst, ruf an.« Estefanos zeichnete den Anruf damals auf. US-Journalisten des Podcasts This American Life rekonstruierten ihn später, man kann ihn sich heute im Internet anhören. Die Beduinen, sagt der Mann da, geben ihnen Telefone, damit sie ihre Familien anrufen und um Lösegeld betteln. Insgesamt seien sie 28 Gefangene, darunter ein Mädchen.

Menschenrechtsorganisationen in Israel werden später bestätigen, was der Mann am Telefon erzählte. Zwischen 2011 und 2014 sollen schätzungsweise 30 000 Menschen auf ihrer Flucht verschleppt worden sein: Schmuggler aus Eritrea und dem Sudan verkauften die Menschen an Beduinen auf der Halbinsel Sinai. Deren Geschäftsmodell: Folter am Telefon, damit Angehörige aus aller Welt Lösegeld zahlen. Es funktionierte, weil die Menschen trotz der Horrorgeschichten weiter aus Eritrea flohen. Und weil die weltweit vernetzte eritreische Gemeinschaft zusammenhielt.

Viele der Überlebenden landeten später im angrenzenden Israel, wir haben einige von ihnen in Tel Aviv getroffen. Osman Taha, dem zwei Finger abgeschnitten wurden. Shiden, der kopfüber aufgehängt wurde und dabei zusehen musste, wie seine Frau vergewaltigt wurde. An jenem Morgen im Februar 2011 wurde Estefanos eine der ersten Zeuginnen dieser grausamen Verbrechen. Sie habe damals nur einen Gedanken gehabt, sagt sie heute: Die Welt muss erfahren, was mit diesen Menschen passiert. Wenige Stunden darauf spielte sie das Telefonat ungeschnitten in ihrer Radiosendung ab.

Für die Geiseln in den Foltercamps änderte das nichts. Der Mann am Telefon, so erzählt es Estefanos heute, wurde über Monate gefangen gehalten, gefoltert und schließlich in der Wüste ausgesetzt, nachdem seine Familie das Lösegeld gezahlt hatte. Er überlebte. Sieben der Gefangenen, sagt Estefanos, wären nach der Folter gestorben. Die Anrufe sollten von nun an ihr Leben bestimmen. Denn die Gefangenen im Sinai reichten ihre Nummer weiter wie eine Lebensversicherungspolice. Wer nicht wusste, wen er um Hilfe bitten sollte, meldete sich bei ihr. Die Flüchtenden klingelten an und legten auf, damit die Anrufe kein Geld kosteten, stündlich, manchmal sogar im Minutentakt. Und Estefanos rief jeden Einzelnen zurück.

Sie hatte damals bereits einen Sohn, und sie war alleinerziehend. Sie sagt, er habe das Klingeln des Telefons zu hassen gelernt. »Aber was hätte ich tun sollen? Ich dachte, wenn ich nicht zurückrufe, dann sterben diese Menschen, und es ist meine Schuld.» Estefanos wohnt immer noch in der Wohnung von damals, ein graues Reihenhaus am Rande von Stockholm. In der Küche steht ein Tisch aus Holz, direkt am Fenster, sie sagt, es ist derselbe, von dem aus sie die ersten Anrufe getätigt hat. Mittlerweile ist sie zweifache Mutter. Sie sagt, ihre Söhne hätten keine Lust mehr, mit Journalisten zu sprechen.

Estefanos trägt Stöckelschuhe und ist dezent geschminkt. Kurzes Haar, müder Blick. Fotos von früher zeigen eine Frau mit wilder Lockenmähne, die herzlich lacht. »Ich war ein glücklicher Mensch«, sagt sie heute. »Ich hatte ein normales Leben.« Die Geschichten der Opfer haben sich tief in ihr eingebrannt. Sie kennt noch alle Namen, erinnert sich an viele Details. Als sie ihre Geschichte erzählt, muss sie manchmal innehalten, sie weint, raucht, holt Luft, erzählt weiter. Estefanos hat Menschen sterben hören.

Damals, 2011, glaubte Estefanos noch: Wenn die Welt von dem Leid erfährt, wird sie einschreiten. Sie schrieb Nachrichten an große Hilfsorganisationen, an Human Rights Watch und Amnesty International. Sie nahm Kontakt zu Zeitungen und Radiosendern auf, verfasste Berichte, gab Interviews. Sie wurde bekannt mit dieser Geschichte. Es gibt einen israelischen Film über sie, er heißt Sound of Torture, der Klang der Folter. Begleitet von einer Kamera reist sie da auf den Sinai, um dort die Behörden wach zu rütteln. Eine junge Frau, die loszieht, um Tausende Menschen zu retten – und man ahnt, dass sie damals wirklich noch glaubte, das auch zu schaffen. Doch keine europäische Polizeieinheit kam ihr zu Hilfe, es gab keinen diplomatischen Druck, keine politische Intervention der Europäischen Union. Zu weit weg schien der Sinai zu sein. Dann erfuhr Estefanos, dass einige der Täter in Europa lebten.

Am 28. Juni 2013 saß Meron Estefanos in einem Gerichtssaal in Stockholm zwei Männern gegenüber, die mutmaßlich mit den Sinai-Menschenhändlern kooperiert hatten. So stand es später in den Akten der Internationalen Staatsanwaltskammer Stockholm, die dem SZ-Magazin vorliegen. Darin heißt es, die Angeklagten sollen versucht haben, Estefanos um 33 000 Dollar zu erpressen. Es ging um einen Eritreer, der im Sinai entführt worden war, einen der vielen Flüchtlinge, die sich bei Estefanos gemeldet hatten. Sie telefonierte zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren täglich mit Menschen in den Foltercamps.

Die Täter auf dem Sinai, so erzählten es ihr betroffene Familien damals, kooperierten mit Mittelsmännern auf der ganzen Welt. Diese sammelten Gelder von erpressten Angehörigen in Schweden, in Deutschland oder in Kanada ein und schickten sie an die Menschenhändler. Estefanos glaubte, wenn man diese Netze zerschlägt, lässt sich auch der Folterhandel im Sinai beenden. Um die Verbrecher zu stellen, spielte sie den Lockvogel: Sie gab sich als Angehörige des Gefangenen aus. Schon bald erhielt sie einen Anruf, er kam direkt aus Stockholm.

Die schwedische Polizei, auch das steht in den Akten, begann auf Estefanos’ Hinweis hin, die Telefone der beiden Angeklagten abzuhören.

4. Februar 2013,12.20 Uhr: »Hör zu, du hast anderthalb Stunden Zeit. Triff mich mit dem Geld in Stockholm, das ist deine letzte Chance. Ansonsten kannst du es vergessen.«

Es kam nie zur Übergabe, kurz darauf nahm die Polizei die beiden Männer fest. Es wurde das erste Mal, dass sich Verbrecher vom Sinai vor Gericht verantworten mussten, Tausende Kilometer vom Tatort der Entführung entfernt. Der leitende Staatsanwalt damals heißt Krister Petersson, er ist heute verantwortlich für organisierte Kriminalität, für Raub und Mord. Wir treffen ihn in seinem Büro in der Stockholmer Innenstadt. Petersson ist ein groß gewachsener Mann, sechzig Jahre alt. Er erinnert sich gut an den Fall und an Meron Estefanos. »Sie war sehr engagiert. Und sehr wütend.«

Die mutmaßlichen Mittelsmänner wurden wegen versuchter Erpressung zu einem Monat Haft beziehungsweise aufgrund des jungen Alters zu gar keiner Gefängnisstrafe verurteilt. Petersson sagt, es habe nicht genug Beweismaterial gegeben, um zu belegen, dass die Erpressungen wirklich im Zusammenhang mit dem Sinai-Menschenhandel standen. Deshalb die milde Strafe. Er sagt, es tue ihm leid. Estefanos sagt über das Urteil: »Was für ein Witz.« Sie glaubt, die Behörden hätten die Verbrechen nicht ernst genommen: »In Schweden ist das Leben einer Katze mehr wert als das eines Flüchtlings.« Der Prozess im Sommer 2013 ließ sie voller Wut zurück.

Nur wenige Monate darauf wurde der Folterhandel auf dem Sinai beendet. Nicht durch eine Rettungsaktion, sondern als Folge einer Großoffensive gegen islamistische Terrorgruppen, die das ägyptische Militär im September 2013 auf der Sinai-Halbinsel begann. Sie zerstörten dabei auch die Foltercamps der Beduinen. Estefanos sagt, Tausende Flüchtlinge seien bei dem Militäreinsatz gestorben. Doch das war nicht das Ende der Anrufe.

Die Täter

Es ist Oktober 2021, wenige Wochen vor unserem ersten Treffen mit Meron Estefanos. In der Frankfurter Innenstadt ruft ein Mann durch ein Mikrofon zu einer Menschenmenge, die Menge brüllt zurück, auf Tigrinya: »Freiheit, Freiheit!« Auf ihren Plakaten steht: Stop Enslaving Africans in Libya! Da tritt eine junge Frau aus der Menge, sie weint. Sie sagt: »Mein Bruder ist in Libyen, sie haben ihn eingesperrt und wollen 4000 Dollar für seine Freilassung. Am Telefon habe ich seine Schreie gehört. Aber ich konnte das Geld nicht zahlen. Seit über einem Monat habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Die Frau ist aufgelöst, ihr Körper zittert.

Spricht man heute mit geflüchteten Menschen aus Eritrea, erzählen sie ähnliche Geschichten: von Misshandlungen in Libyen, von Vergewaltigungen und Folter. Da ist Tekhle in Gießen, den sie ausgepeitscht haben, da ist Ermias in Hannover, der erzählt, wie die Schlepper reihenweise Frauen vergewaltigten, da ist Simon in Frankfurt, der berichtet, wie man ihn zwang, in der prallen Sonne zu sitzen, bis ihm fast der Kopf platzte, da ist Aaron in Köln, der mehrere Tausend Euro für seinen Bruder zahlen musste, den sie in Libyen festhielten. Es sind Geschichten wie damals vom Sinai. Das Geschäft mit der Folter läuft wieder. Als die Ägypter damals die Foltercamps auf dem Sinai zerstört hatten, hörten die Anrufe nicht auf, es wurden mehr. Sie kamen nun nicht mehr vom Sinai, sondern aus Libyen. Es waren Flüchtende, die von ihren Schleppern misshandelt in der Wüste strandeten und in überladenen Schiffen aufs Mittelmeer geschickt wurden. Wenn das Schiff zu sinken drohte, wählten viele die schwedische Nummer. Sie hofften, dass Estefanos ihnen helfen würde, Mutter Meron wurde sie genannt.

Ihre Küche in Schweden entwickelte sich zu einer Art humanitären Zentrale. Von dort sammelte sie Geld für Flüchtlinge und informierte Familien, dass ihre Angehörigen sich auf den Weg übers Mittelmeer machten. Eritreer, die es bis nach Schweden schafften, schliefen oft die ersten Nächte auf ihrer schwarzen Ledercouch, ehe sie weiterzogen. Immer öfter machte sie sich in dieser Zeit Notizen: Wer sind die Schlepper, die von den Flüchtlingen genannt werden? Sie sagt: »Was interessant war: Dieselben Namen, die in Verbindung zum Sinai genannt worden waren, tauchten nun auch in Libyen auf.« Das bestätigen andere Untersuchungen. Mark Micallef von der Organisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime, kurz GIATOC, sagt, auf der Libyen-Route seien teilweise genau jene eritreischen Schmuggler aktiv gewesen, die vermutlich auch die Flüchtenden an die Beduinen verkauft hatten. Als die Foltercamps zerstört waren, suchten sie sich einen neuen Weg. Statt die Flüchtenden an Menschenhändler auszuliefern, setzten die Schmuggler sie nun in überfüllte Boote in Richtung Italien. In den ersten Jahren nach der Zerstörung der Sinai-Camps hieß das Geschäftsmodell nicht mehr Entführung, Folter und Erpressung, sondern Menschenhandel.

Am 3. Oktober 2013 sank vor Lampedusa ein Boot mit 366 Menschen an Bord, aus Libyen kommend. Mehr als die Hälfte der Menschen stammte aus Eritrea. Der Holzkahn war kaum seetüchtig, es gab keine Rettungswesten, kein Beiboot. Der Fall erschütterte die europäische Öffentlichkeit. Mit einem Mal war das Leid der Flüchtlinge nah und sichtbar.Und nun interessierte Europa sich für ihr Schicksal.

Noch im selben Jahr begannen italienische Staatsanwälte erstmals, gegen einzelne Schmuggler zu ermitteln. Sie nutzten dafür die weitreichenden Befugnisse aus der Mafia-Bekämpfung, ließen im großen Stil Telefone abhören und überwachten Geldtransfers. Schweden, die Niederlande und Großbritannien beteiligten sich an dem Einsatz. Bekannt wurden diese Ermittlungen als Operation Glauco und Operation Tekhlo. Meron Estefanos sagt, die anschließend veröffentlichten Berichte hätten ihr zum ersten Mal einen umfangreichen Einblick in das Geschäft mit den Flüchtenden gegeben.

Einzelne Schmuggler verwalten ganze Routen, sie reichen aus Eritrea, Äthiopien oder Somalia bis nach Nordeuropa, nach Deutschland und Schweden. Namen wurden in den Berichten genannt, Strukturen, Telefonnummern. Für Estefanos war der Inhalt dieser Berichte eine Goldgrube. Mit diesen Informationen, glaubte sie, würden auch die Behörden endlich etwas unternehmen. Doch die Erfolge der europäischen Ermittler blieben zunächst überschaubar. Die italienische Polizei nahm nur wenige Männer fest. Estefanos sagt, etliche von ihnen seien Unschuldige gewesen, die ihren Angehörigen lediglich das Geld für eine Bahnfahrt nach Deutschland oder Schweden bezahlt hätten.

Sie glaubt, die Behörden habe der Unterschied nicht interessiert, ob jemand Menschen bei der Flucht helfe oder sie misshandle. Es sei ihnen nie darum gegangen, das Leid der Opfer zu beenden, sondern darum, die Migration nach Europa zu stoppen. Innerhalb der eritreischen Exil-Gemeinschaft war Meron Estefanos mittlerweile eine Berühmtheit, beinahe jeder kannte ihre Radiosendung. Als sie mal wieder über Schlepper berichtete, erhielt Estefanos nun plötzlich auch Anrufe von den Männern selbst. Sie wollten ihren Ruf verteidigen, um neue Flüchtlinge anzulocken. Sie sagt, die Männer seien stolz gewesen, in ihrer Sendung aufzutauchen. Sie hätten das als Werbung für ihr Geschäft gesehen.

Auch ein Mann namens Medhanie Yehdego Mered habe sie im Herbst 2015 angerufen, sagt sie. Er gilt unter Eritreern als einer der erfolgreichsten Schmuggler. Estefanos sagt, sie habe gefragt: »Warum setzt du Flüchtlinge ohne Schwimmwesten in die Boote?« Er habe geantwortet: »Wenn ich Schwimmwesten kaufe, werde ich sofort als Schmuggler identifiziert.« Sie sagt, Mered habe sich als Helfer der Flüchtenden gesehen, nicht als ihr Peiniger.

Im Juni 2016 meldete die Staatsanwaltschaft in Palermo, man habe eben jenen Schmuggler gefasst, dessen Stimme Estefanos bereits kannte: Medhanie Yehdego Mered. Der Fall machte international Schlagzeilen, ein Erfolg der Europäer im Kampf gegen Menschenschmuggel. Das glaubten jedenfalls die Ermittler. Estefanos sagt: »Eritreer aus der ganzen Welt riefen mich an und sagten: Sie haben den Falschen, das ist nicht Mered.« Begleitet von einem Filmteam des schwedischen Senders SVT reiste Estefanos nach Uganda, um den echten Mered zu finden. Exil-Eritreer hatten ihr berichtet, der Schmuggler halte sich nun dort auf. Mit versteckter Kamera besuchte Estefanos eritreische Bars, in denen Mered gesehen worden sein sollte, zeigte Fotos von ihm auf ihrem Smartphone und sagte: »Ich suche diesen Mann.« Auf den später ausgestrahlten Bildern wirkt sie nicht, als habe sie sich gefürchtet. Heute sagt sie: »Wenn du diesen Männern zeigst, dass du keine Angst hast, dann bekommen sie Angst vor dir.«

Angestoßen von Estefanos’ Recherchen berichteten nun internationale Medien ausführlich über den Fall, etwa der Guardian und der New Yorker. Der Prozess endete im Desaster für die Ermittler: Der vermeintliche Schmuggler war ein unschuldiger Handwerker. Es stellte sich heraus: Die Italiener hatten zwar unzählige Gespräche abgehört und Geldflüsse analysiert – aber nicht einen einzigen Zeugen geladen, der den Schmuggler wiedererkannte. Estefanos sagt: »Sie haben Millionen Euro ausgegeben für die Jagd nach diesen Schleppern, sie benutzen all diese moderne Technik, und trotzdem haben sie keine Ahnung, wer die Männer sind. Soll das ein Witz sein?« Sie sagt, damals habe sie endgültig das Vertrauen in die europäischen Behörden verloren. »Wie kann es sein, dass eine einzelne Frau in ihrer Küche mehr weiß als all diese Polizeidienste?«

Statt die Flüchtlinge zu schützen, schloss Italien im Februar 2017 eine folgenschwere Vereinbarung mit Libyen. Die Europäer zahlen nun Millionenbeträge an die libysche Küstenwache, um die Flüchtlingsboote direkt an der Küste abfangen zu lassen. Sie finanzieren Lager, in denen die Libyer Flüchtende einsperren. Der Weg nach Europa ist versperrt. Mark Micallef von der Organisation GIATOC sagt: »Plötzlich hatten Schmuggler Zehntausende Flüchtlinge in ihren Lagerhallen sitzen, die sie nicht weiterbringen konnten. Also mussten sie neue Wege finden, um mit ihnen Geld zu machen.« Die Schmuggler führten fort, was auf dem Sinai bereits ein einträgliches Geschäft gewesen war: foltern und erpressen.

Im selben Jahr veröffentlichte der US-Sender CNN Filmaufnahmen aus Libyen, auf denen man sieht, wie Flüchtende von Händlern verkauft werden. Die Bilder zeigen gefesselte Männer, eine Stimme sagt auf Arabisch: »Große, starke Männer für die Feldarbeit.« Aus den Schmugglern wurden auch Menschenhändler. 2017 hielten sich bis zu 700 000 Flüchtende in Libyen auf, schätzte die Afrikanische Union. Meron Estefanos beriet in dieser Zeit Menschenrechtsorganisationen und Forschungsinstitute. Sie sprach auf Konferenzen im Ausland und veröffentlichte wissenschaftliche Berichte gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern der SOAS University in London oder der Leiden-Universität in den Niederlanden. Sie warnte: Die Situation in Libyen werde für die Menschen auf der Flucht immer schlimmer.

Im Zuge unserer Recherche haben wir mit etlichen Journalisten, Aktivistinnen und Wissenschaftlern gesprochen. Nahezu alle sagen, Estefanos sei eine der bestinformierten Personen im Bereich Menschenhandel. Niemand wisse mehr über die Täter in Libyen. Estefanos sagt, sie habe genau begreifen wollen, wie die Netze der Menschenhändler funktionieren. Sie reiste nach Äthiopien und in den Sudan, sprach mit Flüchtlingen, Ermittlern und auch mit Schmugglern. Immer wieder fiel bei den Gesprächen der Name einer Stadt in Libyen: Bani Walid. Die Geschichten von dort ähnelten erschreckend jenen vom Sinai: Entführung, Folter, Erpressung. Flüchtende sollen von ihren Schleppern eingesperrt und misshandelt werden.

Bani Walid gilt seit jeher als zentraler Knotenpunkt der Schmuggelroute von Ostafrika zum Mittelmeer. Viele Flüchtlinge nutzen einen anderen Namen: »Ghost Town«, Geisterstadt. Sie meinen damit die Geister der ermordeten Flüchtlinge. Wer Bani Walid erreicht, hat bereits Tausende Kilometer entbehrungsreicher Flucht hinter sich. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur libyschen Küste. Doch ausnahmslos alle Menschen, die wir gesprochen haben, sagen, Bani Walid sei der schlimmste Ort ihrer Flucht gewesen.

Die Stadt liegt 180 Kilometer südöstlich von Tripolis, umgeben von Wüste und trockener Steppe, Milizen-Gruppen halten dort die Macht. Bis heute gilt Bani Walid als rechtsfreier Raum, ein Paradies für Menschenhändler. Es soll dort Hallen geben, die von Eritreern verwaltet werden, andere von Somalis oder Sudanesen. Jede Nation hat ihre eigenen Folterer. Einer von ihnen ist der Eritreer Kidane Zekarias Habtemariam, sein Name sollte Estefanos

noch lange begleiten. Er kam vermutlich zu Gaddafi-Zeiten als Migrant zum Arbeiten nach Libyen und stieg dann ins Schmugglergeschäft ein. Über seine Herkunft ist wenig bekannt. Estefanos sagt, als sie zum ersten Mal von Kidane hörte, 2014, war er bereits zum Chef eines Schmuggel-Netzes aufgestiegen.

Wenn Estefanos Anrufe aus Libyen erhielt, flüsterten die Flüchtlinge seinen Namen. Kidane galt als besonders brutal. Als einer der ersten Schmuggler hatte er das Geschäft mit der Folter für sich entdeckt. Flüchtende, sie sich seinem Netzwerk anvertraut hatten, wurden auf einmal nicht mehr ans Mittelmeer gebracht, sondern in Lagerhallen eingesperrt, bis die Angehörigen Lösegeld zahlten. In Bani Walid agierte er unter demSchutz der Diab-Familie, eines libyschen Clans mit viel Einfluss in Bani Walid. Ein Eritreer in Gießen, der über Kidanes Netzwerk nach Europa geschleust wurde, war drei Monate lang in Kidanes Gewalt. Er sagt, Kidane habe sie wie Tiere behandelt. Sie durften sich demnach nicht waschen, bekamen kaum etwas zu essen, wer sich beschwerte, wurde verprügelt.

Ein Äthiopier, der vier Monate unter Kidanes Kontrolle verbrachte, sagt, sie hätten täglich in einer Schlange warten müssen, um ihre Angehörigen anzurufen. Wer an der Reihe war, sei während des Anrufs geschlagen worden. Das sollte den Druck auf die Angehörigen erhöhen. Bis zu umgerechnet rund 20 000 Dollar mussten Flüchtende in Kidanes Gewalt aufbringen, um freizukommen. Es gibt Forschungen, die schätzen, dass bereits 2015 rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Libyen durch Menschenhandel generiert wurden, umgerechnet etwa 980 Millionen Dollar in einem Jahr.

Kidane Zekarias Habtemariam muss ein Vermögen mit den Flüchtenden verdient haben, sein Netzwerk reichte von Äthiopien bis nach Schweden. Selbst in Deutschland sollen seine Mittelsmänner Geld eingesammelt haben, das erzählen Opfer. Das Lösegeld wird mithilfe eines illegalen Bankensystems, Hawala genannt, nach Dubai, Libyen und Äthiopien geschickt. Auch in Deutschland gibt es solche Hawala-Stuben, am Frankfurter Hauptbahnhof zum Beispiel. Über einen Waschsalon betritt man einen kleinen Laden, aus Boxen tönt eritreische Musik. Im Hinterzimmer hockt ein Mann an einem schmalen Holztisch und tätigt Überweisungen nach Afrika. »Der Geldtransfer verläuft bei Hawala im Verborgenen, ohne Belege, ohne Dokumentation«, sagt der Finanzexperte Matthias Casper von der Universität Münster. Der Transfer läuft unter dem Radar der Finanzaufsicht – obwohl pro Opfer Tausende Euro Lösegeld das Land verlassen. Auf Anfrage des SZ-Magazins schreibt die Finanzaufsicht BaFin: »Diese Strukturen sind regelmäßig sehr stark abgeschottet und von Außenstehenden (…) nur schwer zu durchdringen.«

Im Jahr 2018 veröffentlichten Dutzende Hilfsorganisationen bereits alarmierende Studien über Libyen, etliche Medien berichten über die Erpressungen von Migranten in Europa, doch die Behörden in Schweden und auch in Deutschland unternehmen anscheinend praktisch nichts. Zwei Fälle, die Meron Estefanos der schwedischen Polizei meldete, wurden nach wenigen Wochen fallen gelassen, zu wenige Beweise. Das belegen Polizeiakten. Ein Versuch der europäischen Polizeibehörde Europol, Ermittlungen anzustoßen, versandete im Nichts.

Deutsche Staatsanwaltschaften, bei denen das SZ-Magazin sich erkundigt, erklären, man wisse nichts über derlei Erpressungen. Ein einziger Fall wurde in Deutschland je verhandelt: Flüchtlinge hatten ihren Folterer aus Libyen auf der Straße angetroffen und ihn der Polizei gemeldet. Der Mann wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Doch systematische Ermittlungen zu hier lebenden Tätern hat es nie gegeben. Dabei stehen in den italienischen Glauco-Reports sogar Nummern und Adressen aus Schweden und Deutschland. Estefanos sagt: »Vermutlich haben viele Täter nie erfahren, dass sie in den Berichten standen.«

Die Sprecherin der eritreischen Exil-Organisation United4Eritrea in Frankfurt, Rut Bahta, sagt: »Es gibt hier keine Familie, die noch nicht erpresst wurde. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft.« Doch kaum ein Betroffener wendet sich an die Behörden, zu groß ist das Misstrauen. Wer Hilfe braucht, fragt Mutter Meron. Im Dezember 2018 brach Meron Estefanos zusammen, wie sie erzählt. Seit zehn Jahren hörte sie da bereits Geschichten von Folter und Gewalt. Täglich kroch der Schrecken übers Telefon in ihre Küche. Zum internationalen Tag der Migration hatte sie auf Twitter noch einmal über die Schicksale vom Sinai berichtet, da schnürten ihr Trauer und Wut die Kehle zu. Heute sagt sie: »Es wurde zu viel. Die Anrufe, die Gespräche, die Informationen. Es wurde nur schlimmer und schlimmer.«

Wenn nun ein verpasster Anruf auf ihrem Handy war, rief sie nicht mehr zurück. Sie kündigte ihren Job beim Radio und ließ keine Geflüchteten mehr bei sich unterkommen. Jahrelang hatte sie ihre Gefühle weggedrückt, um zu funktionieren. Schichten um Schichten von Schmerz hatten sich in ihr aufgestaut. Sie konnte nicht mehr. Plötzlich sei da eine Leere gewesen, sagt sie heute. Das Einzige, was blieb, war die Wut auf die Täter. Sie sagt, um nicht verrückt zu werden, habe sie sich an ihre letzte Hoffnung geklammert: Sie beschloss, die Menschenhändler zu jagen. Sie sagt: »Ich träume davon, dass die Täter vor ein internationales Gericht gestellt werden.« Ein Tribunal in Den Haag, wie für Kriegsverbrecher.

Ihre Wohnung war nun keine humanitäre Zentrale mehr, sondern ein Ort, von dem aus sie Informationen sammelte. Über Jahre hinweg hatte sie um sich ein Netz aus ehemaligen Flüchtlingen und Aktivisten gebildet, es wurde nun ihre wertvollste Ressource. Sie telefonierte mit Exil-Eritreern aus aller Welt, um mehr über Männer wie Kidane zu erfahren, den brutalen Folterer aus Bani Walid. Sie erfuhr, dass sich die Menschenhändler nicht nur in Libyen aufhalten, sondern regelmäßig reisen. Sie fliegen nach Dubai, Uganda oder Äthiopien, um ihr Geld auszugeben.

Kidane Zekarias Habtemariam und seine Leute besuchten dort offenbar Bars und Restaurants der eritreischen Exil-Gemeinschaft, dieselben, in die auch Estefanos’ Kontaktpersonen gingen. Estefanos sagt, sie habe zeitweise fast auf den Tag genau gewusst, wann einer der Menschenhändler im Ausland auftauchen würde. Auf ihrem Handy hat sie ein Foto von Kidane gespeichert, es ist eines der wenigen Beweise für ihre Jagd nach den Verbrechern. Verifizieren können wir es nicht. Das Foto soll 2018 in einem Nachtclub in Dubai aufgenommen worden sein: ein kahlköpfiger Mann, der in die Kamera grinst, weißes Hemd, blaues Sakko.

2019 nahm Meron Estefanos Kontakt mit einem Briten namens Alan Edwards auf, der die Recherche-Einheit ROCK leitete, das Regional Operational Centre in Khartoum. ROCK war 2016 von der Europäischen Union nach den schweren Bootsunglücken gegründet worden. Vom Sudan aus soll die Einheit den Kampf gegen Menschenschmuggler in Ostafrika unterstützen. Edwards’ Auftrag: Er sollte Informationen sammeln und sie an nationale Behörden weitergeben. Selbst ermitteln sollte er nicht. Doch Estefanos sagt, sie habe immer den Eindruck gehabt, Edwards und seine Leute strebten nach mehr. Sie hätten ihr deutlich gemacht: Sie wollen Menschenhändler hinter Gitter bringen. Estefanos hoffte darauf, dass Edwards zuschlagen würde, wenn sie ihm die entscheidenden Informationen zuspielen würde.

Der Prozess

Es war der 9. Februar 2020 kurz vor 16 Uhr, als der 25 Jahre alte Fuad Bedru Shekur in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba auf der Straße seinen Peiniger erkannte. Shekur lebte da erst seit einigen Monaten wieder in der Stadt. Zuvor hatte er fast zwei Jahre lang versucht, nach Europa zu fliehen. Er hatte sich von Äthiopien in den Sudan durchgeschlagen, Libyen erreicht und war schließlich in Bani Walid gelandet. Als er zurück nach Äthiopien kam, war sein Rücken übersät mit Narben. Er sagt, das Gesicht des Mannes, der ihm das angetan habe, verfolge ihn bis heute in seinen Träumen: das Gesicht von Kidane Zekarias Habtemariam. Einige europäische Ermittler glauben bis heute, Shekurs Geschichte könne nicht stimmen, so unglaublich klingt sie.

Im Dezember 2021 treffen äthiopische Kollegen Shekur zum Interview in Addis Abeba. Wegen des Krieges in der äthiopischen Provinz Tigray, den die äthiopische Regierung gegen Rebellengruppen führt, haben wir selbst kein Visum für Äthiopien erhalten. Auf Fotos vom Treffen sieht man einen jungen Mann mit dünnem Bart in die Kamera lächeln. Unsere Kollegen berichten, er sei ein zurückhaltender, freundlicher Mann, unauffällig. Shekur sagt, an jenem Tag im Februar habe er von einem Geschäft aus auf die Straße geblickt, und plötzlich habe Kidane da gestanden. »Ich konnte meinen Augen nicht trauen.« Er sagt, in dem Moment habe er keine Angst vor Kidane gehabt. Seine einzige Sorge sei gewesen, dass Kidane entkommen könnte. Unauffällig sei er ihm durch die Straßen von Addis Abeba gefolgt und habe dann die Polizei gerufen.

Auch Meron Estefanos war an jenem Tag in Addis Abeba, so erzählt sie es. Seit mehr als einem Jahr verfolgte sie da schon Kidane und seine Mittäter. Wenige Tage zuvor war sie nach Äthiopien gereist, um zwei ihrer wichtigsten Informanten zu treffen. Am frühen Morgen des 10. Februar 2021 erhielt Estefanos eine Nachricht aus ihrem Netzwerk: Äthiopische Polizisten hätten Kidane festgenommen. Estefanos sagt: »Ich musste schnellhandeln, sonst wäre Kidane am nächsten Tag freigekommen. Die Äthiopier hatten vermutlich keine Ahnung, wen sie da geschnappt hatten.« Also leitete sie die Nachricht weiter an Alan Edwards.

Edwards ist ein Mann mit kantigem Gesicht und grauen Haaren. Wir bitten ihn, die Abfolgeder Ereignisse zu verifizieren. Er bestätigt die Geschichten von Estefanos und Shekur, zitieren dürfen wir ihn nicht. Edwards ist ein erfahrener Ermittler, der schon im Kosovo und in Istanbul gearbeitet hat. Als er Estefanos’ Nachricht erhielt, schickte er sofort äthiopische Kollegen zur Polizei-wache, in der man Kidane festhielt. Auch ihm war klar: Das ist ein großer Fang. Auf Fotos von der Polizeiwache, die Estefanos später auf Twitter teilt, sieht man einen Mann in Hoodie und Jeans, seine Füße stecken in Lederschlappen. Kidane sitzt auf einer Holzbank, zurückgelehnt und ohne Handschellen, als könne er gleich aus dem Raum spazieren. Doch nun übernahmen Edwards und seine Leute den Fall.An jenem Februarmorgen kam etwas ins Rollen: Von ihren Informanten bekam Meron Estefanos genaue Angaben, wo sich einige andere Menschenhändler aufhielten. Sie gab diese Informationen an Edwards weiter, der wiederum die äthiopischen Kollegen koordinierte. Die Polizisten durchsuchten Wohnungen, kontrollierten Nachtclubs und Bars.

In den folgenden Wochen wurden vier weitere hochrangige Menschenhändler in Addis Abeba festgenommen, Telefone beschlagnahmt und Konten aufgespürt. Es war ein historischer Moment, zum ersten Mal legten Behörden tatsächlich Hand an wichtige Menschenhändler. Kurz darauf stellte Italien einen Auslieferungsantrag. Doch Meron Estefanos sagt, sie habe keine Freude darüber gespürt. Ihr Ziel war, die Täter vor ein internationales Gericht zu bringen. Stattdessen beschlossen die Äthiopier, die Menschenhändler nicht nach Europa auszuliefern, sondern sie selbst anzuklagen.

Estefanos sagt, in Europa hätten Staatsanwälte genug Informationen gehabt, um diegesamten Netze zu zerschlagen. In Äthiopien, fürchtete sie damals, wären die Menschenhändler schon bald wieder frei. »Es ist ein korruptes Land«, sagt sie. Noch während Polizisten die Wohnungen der Menschenhändler stürmten, verließ Estefanos die Stadt. Ihre Hoffnung auf ein internationales Tribunal hatte sich zerschlagen.

Am 14. Oktober 2020, ein halbes Jahr nach der Festnahme, betrat der MenschenhändlerKidane Zekarias Habtemariam den Gerichtssaal in Addis Abeba. Vier Soldaten in Tarnfleckuniform begleiteten ihn, Maschinengewehre hingen über den Schultern. Die einzigen Prozessbeobachter waren eine irische Journalistin und einer unserer äthiopischen Kollegen. Er sagt, Kidane habe den Saal wie ein Sieger betreten: Blick erhoben, Rücken durchgedrückt. Kidane ist groß und breitschultrig. Die Soldaten führten ihn in die erste Reihe, der Vorsitzende Richter bat die Anwesenden, sich zu erheben, der Staatsanwalt verlas die Anklage.

Der Prozess, der nun folgte, wirkte chaotisch und dauerte nicht einmal vier Monate. Die Staatsanwaltschaft weigerte sich, Zeugen aus dem Ausland zu hören, dabei leben die meisten der Betroffenen längst in Europa und in den USA. Nicht einmal Fuad Shekur wurde geladen. Die Anklage stützte sich auf nur 14 Zeugen für drei Angeklagte. Immer wieder wechselte der Leitende Staatsanwalt im laufenden Prozess. Es gab keine internationalen Beobachter, das Interesse der Öffentlichkeit schien gering. Und es trat ein, was Estefanos befürchtet hatte: Der Angeklagte verschwand.

Am 18. Februar 2021 erschien Kidane nicht zur Sitzung, Sicherheitskräfte fanden nur noch seine Gefängniskleidung auf der Toilette des Gerichts. Später erklärte ein Staatsanwalt, Kidane habe vermutlich die Wachen bestochen und das Gericht durch den Eingang verlassen. Niemand will seine Flucht beobachtet haben. Im darauffolgenden Juni verurteilte das Gericht den Menschenhändler Kidane in Abwesenheit zu lebenslanger Haft, auch die anderen vier Menschenhändler erhielten lange Haftstrafen.

Wir treffen Meron Estefanos im Januar 2022 in der Globen Shopping Mall am Rande der Stockholmer Innenstadt. Es ist unser drittes Treffen. Lichterketten hängen von der Decke, über Lautsprecher läuft sanfte Popmusik. Jeden Morgen fährt Estefanos von ihrer Wohnung in die Mall, mittags kehrt sie zurück. Seit einem Jahr macht sie es so, sie sagt, dieser Ort war ihre Rettung. Im Keller ist ein kleines Fitnessstudio, eben hat Estefanos ihr tägliches Sportprogramm beendet: Warm-up, ein paar Kraftübungen, dann Gewichte stemmen, 60 Kilo. Jetzt isst sie zu Mittag, Fisch und Salat. Sie trifft dort niemanden, sie sagt, sie habe praktisch keine Freunde mehr in Schweden. »Die Routine hält mich am Leben.« Früher ist Estefanos Tausende Kilometer weit gereist, um etwas zu verändern, nach Italien, Israel, Äthiopien.

Von der Mall bis zur Wohnung braucht sie mit dem Auto zwanzig Minuten, das ist die Strecke, auf der sich ihr Leben nun abspielt. Als Estefanos nach Kidanes Verhaftung im Frühjahr 2020 aus Äthiopien zurückkehrte, so erzählt sie es heute, stürzte sie in eine Depression. Die Corona-Pandemie zwang sie, zu Hause zu bleiben, geplante Rechercheprojekte wurden abgesagt. Sie sagt, neun Monate lang habe sie ihr Bett kaum verlassen, sie habe niemanden gesehen, sich für nichts mehr interessiert. Berichte aus Libyen habe sie einfach ignoriert. Berichte wie diese: Jeder zweite Flüchtling, der von Libyen aus in Italien landet, hat auf der Reise einen Menschen sterben sehen, jeder Dritte sogar einen Angehörigen oder nahen Freund, berichtet die italienische Hilfsorganisation MEDU.

Im Jahr 2020 konnten nur noch 30 000 Flüchtende Libyen per Boot verlassen, mehr als 600 000 stecken im Land fest, schreibt die Organisation GIATOC. Im November 2021 enthüllten Journalisten des Magazins New Yorker, dass auch in den offiziellen Flüchtlingscamps mittlerweile gefoltert wird. Die Camps werden von europäischen Staaten mitfinanziert.

Estefanos lenkt ihr Auto aus der Tiefgarage und zündet sich eine Zigarette an. Vor dem Fenster zieht die schwedische Vorstadt vorbei: graue Reihenhäuser, Schneematsch. Estefanos hat mehr als zehn Jahre ihres Lebens damit verbracht, Menschen wie Fuad Shekur Gerechtigkeit zu verschaffen. Nun entkam einer der wenigen Menschenhändler, die je vor Gericht standen. »Wer weiß, ob die anderen nicht auch schon geflohen sind«, sagt Estefanos.

All ihr Geld ist in das Engagement für andere geflossen. In Flüge nach Äthiopien, Anrufe nach Libyen. »Ich muss sehen, wie ich über die Runden komme«, sagt sie. Wenn sie nicht im Fitnessstudio ist, sitzt sie in ihrer Küche und sucht nach einem Job. »Ich bin ausgebrannt.« Ihr älterer Sohn habe ihr erklärt, er könne sich vorstellen, alles zu werden, nur kein Aktivist. Er habe die Armut satt. Sie sagt, sie habe ein schlechtes Gewissen, weil sie sich zu wenig um ihre Kinder gekümmert habe. War der ganze Kampf vergebens?

Meron Estefanos war nicht allein auf der Jagd nach Kidane. Im Oktober 2021 schrieb die niederländische Staatsanwaltschaft den Menschenhändler Kidane Zekarias Habtemariam zur internationalen Fahndung aus. Wenige Tage darauf wandten sich die Ermittler mithilfe eines Fernsehbeitrags an die eritreische Gemeinschaft in den Niederlanden und baten um Unterstützung. In dem Video sieht man die Bilder von Kidanes Verhaftung in Äthiopien, der mutmaßliche Verbrecher in Hoodie und Schlappen.

Im Januar 2022 reisen wir in die Niederlande, um über den Fall zu sprechen. Unsere Gegenüber: eine Staatsanwältin und ein Ermittler der niederländischen Polizei. Aus diesem Treffen dürfen wir nicht zitieren, die Ermittlungen laufen noch. Was aber gesagt werden darf: Bereits 2017, zur selben Zeit, als auch Estefanos ihre Recherchen begann, habe die niederländische Staatsanwaltschaft von der Erpressung eritreischer Migranten erfahren. Die Staatsanwaltschaft habe daraufhin ermitteln lassen: Mittelsmänner seien observiert, Häuser in ganz Europa durchsucht, Zeugenaussagen gesammelt worden.

Einige eritreische Menschenhändler hätten besonders im Visier der Ermittlungen gestanden. Einer von ihnen war demnach Kidane. In diesem Jahr wollen die Niederländer Kidane und seinen Mittätern den Prozess machen, zur Not auch in Abwesenheit. Etliche Mittelsmänner in den Niederlanden stehen bereits unter Beobachtung der Polizei. Kidane wird allerdings nicht wegen Folter angeklagt, sondern wegen Schmuggel und Geldwäsche.

Zu Meron Estefanos wollen die Ermittler sich nicht öffentlich äußern. Was in dem Gespräch deutlich wird: Die Niederländer wissen, wie wichtig ihr Draht in die eritreische Gemeinschaft ist. Über Estefanos’ Twitter-Account haben sie überhaupt erst von Kidanes Verhaftung erfahren. Dennoch wird sie weder in die Ermittlungen eingebunden noch als Zeugin befragt. Kidane steht nun auf der Interpol-Fahndungsliste, doch wird das kaum reichen, um ihn erneut zu fassen.

In Stockholm steht Estefanos in ihrer Küche und kocht Tee. Ins heiße Wasser streut sie Ingwer und Zimt, den Geschmack ihrer Heimat. Ihr Handy klingelt, ein Eritreer meldet sich, er suche einen vermissten Verwandten. Sie antwortet müde, sie könne leider nicht helfen. Sie legt auf. Seit Jahren ruft sie keine unbekannten Nummern mehr zurück. Aber wenn ihr Handy klingelt, geht sie ran. »Natürlich«, sagt sie, »was soll ich sonst machen?«

Warum, glaubt sie, hat sich die Staatsanwaltschaft nicht bei ihr gemeldet? »Für die Behörden bin ich nicht vertrauenswürdig. Ich bin eine Schwarze aus Eritrea, eine Aktivistin. Wenn ich etwas melde, werde ich immer gefragt: Was ist deine Quelle? Ich selbst bin die Quelle, nur reicht das nicht.« Estefanos lässt sich in ihr Ledersofa sinken. Sie sagt, Freunde hätten ihr zur Therapie geraten, aber wer könnte ihre Geschichte schon nachvollziehen?

Glaubt sie, dass die Niederländer Kidane tatsächlich vor Gericht bringen werden? Sie zuckt mit den Schultern, möglich. Sie sagt: »Immerhin machen sie irgendetwas.« Die internationale Gemeinschaft hat 1998 den Strafgerichtshof in Den Haag gegründet. Er soll jenen Gerechtigkeit verschaffen, die sich an keinen Staat wenden können. Im November 2021 reichte die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights dort tatsächlich Strafanzeige gegen die Menschenhändler in Libyen ein. Auch Eritreer sind unter den angezeigten Tätern. Laut einer Sprecherin der Organisation habe die Anklagebehörde bereits darauf hingewiesen, dass sie die Taten in Libyen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einschätzt. Sie sagt: »Wir hoffen sehr, dass der Strafgerichtshof jetzt entsprechend handelt und Ermittlungenaufnimmt.«

Es gibt Gerüchte, wonach einzelne Sinai-Schlepper nun in Schweden leben, doch keine Behörde scheint sich dafür zu interessieren. Unter ihrem Couchtisch hat Meron Estefanos eine Speicherplatte verstaut. Es ist ein Plastikblock, bespielt mit den aufgenommenen Telefongesprächen aus dem Sinai. Fast hundert Gigabyte Leid. Die Geschichten der Menschen, mit denen sie sprach hat, sagt sie, seien der Grund, weshalb sie immer weitergemacht hat. Ihre Stimmen haben sie nie losgelassen. Doch keiner von ihnen werde je Gerechtigkeit erfahren.


Bild: Robin Hinsch