Die Schattenfänger

Die Gemeinschaft »Go&Change« wirbt damit, in einem alten Kloster in Franken »eine Kultur zu schaffen, die auf Liebe ausgerichtet ist«. Viele Menschen auf der Suche nach einem alternativen Lebensmodell folgten diesem Versprechen. Doch die Vorwürfe, die Aussteigerinnen und Aussteiger gegenüber dem SZ-Magazin erheben, erzählen von einem Albtraum. Es geht um Psychoterror und Gehirnwäsche, Kindeswohlgefährdung und sexualisierte Gewalt. Und um einen rätselhaften Anführer, vor dem sich viele bis heute fürchten.

von Eva Hoffmann

erschienen am 9. Dezember 2021, Süddeutsche Magazin

Die Tochter bringt er noch ins Bett. Er denkt, dass er sie so bald nicht wiedersieht. Er lauscht. Niemand auf dem Flur. Es ist Samstag, und da ist immer

Party in der Kapelle. Alle müssen hin. Jana hat er einen Zettel auf den Nachttisch gelegt: »Ich kann so nicht leben. Ich muss hier weg.« Er nimmt den Seitenausgang. Dann rennt Tom V. los.

Auf den Feldern liegt Wintertau. Wasser dringt in seine Schuhe. Auf der Straße will er nicht laufen. Vielleicht folgen sie ihm. Er erreicht den nächsten Ort, wie in Trance. Es ist fast Mitternacht. Der Bus fährt nicht mehr. In einer Bankfiliale findet er einen Flyer und beginnt, darauf zu schreiben. Irgendwann

wird es hell. Seine Gedanken jagen die Buchstaben eng über das Papier. »Angst vor jedem Auto, das etwas langsamer fährt, Rufe gehört, daran gedacht, wie erschreckt und verletzt du sein musst, wie die Party abbricht, dich alle in den Arm nehmen, schweres Atmen und Wimmern, ansonsten aber vor allem vorwärtskommen, Überlebensmodus, keine Gefühle, wie geht es mir gerade? Gut, ich bin berührt und entspannt,

traurig, aufgelöst – das darf doch nicht sein, nach dieser Ego-Aktion, bei der ich meine Familie einfach so zurückgelassen habe.«

Drei Jahre zuvor haben Jana und er geheiratet. Acht Jahre lang waren sie ein Paar. Ein Jahr zuvor zogen sie mit dem ersten Kind in die Gemeinschaft Go&

Change. Jana war damals schwanger. Der Umzug aufs Land war eine Flucht nach vorn: bloß keine spießige Kleinfamilie werden. Ein Ort zum Altwerden unter Gleichgesinnten. Go&Change ist wie eine Droge, die sofort abhängig macht, sagt Tom heute.

Dazugehören fühlt sich an wie ein Rausch, zusammen ist jede Erfahrung extrem. Für dieses Gefühl war er bereit, alles aufs Spiel zu setzen. Das SZ-Magazin hat Tom V. und seine Familie – die echten Namen sind der Redaktion bekannt – in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder

getroffen und mit Dutzenden Angehörigen, Fachleuten und mehr als zehn Aussteigerinnen und Aussteigern gesprochen. Diese lebten zwischen mehreren

Monaten und mehreren Jahren in der Gruppe Go&Change. Sie alle waren dort eingezogen mit dem Ziel, »eine Kultur zu schaffen, die auf Liebe ausgerichtet ist«. So steht es auf der Webseite von Go&Change. Diese Vision hat in den vergangenen fünf Jahren Hunderte junge Menschen aus ganz Deutschland in das ehemalige Kloster nahe Würzburg gelockt, das Go&Change gekauft hat. Menschen, die fest im Leben standen als Hotelfachfrau, Biologin oder Pädagoge. Die Chronik ihres Ausstiegs ist auch die Chronik einer Gemeinschaft, die ihre Utopie aus den Augen verloren hat. In der die besten Absichten das Schlechteste im Menschen hervorbringen konnten. Eine Dynamik, die in Gewalt und Machtmissbrauch eskalierte. Es ist die Chronik einer Gehirnwäsche. 

I Annäherung 

Im Mai 2020 stimmt Tom V. einem Gespräch mit dem SZ-Magazin zu. Seine Schwester fiel mir im Internet auf, sie warnte online vor der Gruppe Go&Change. Bei einem ersten Telefonat wirkte sie hilflos: Ihr Bruder sei in einer Nacht- und Nebelaktion ausgestiegen,

von seiner Frau und den Kindern wisse man noch nichts. Wenige Wochen nach diesem Telefonat: das erste Treffen mit Tom V., auf einer Parkbank in Halle. Die glatten Haare hat er im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, durch die randlose Brille schaut er sich immer wieder um. Wenn Menschen vorbeispazieren, senkt er die Stimme. Er hat einen guten Freund zu diesem ersten Interview mitgebracht, zur Sicherheit.

Mit leiser Stimme beginnt er zu erzählen.

Tom und Jana lernen sich in Halle, Sachsen-Anhalt, auf einer Radtour kennen. Beide interessieren sich für Nachhaltigkeit, Lebensmittel und bewussten Konsum. Sie ziehen bald zusammen. Jana beginnt eine Ausbildung zur Physiotherapeutin, Tom ist Gärtner. 2016 landet Jana auf einer WG-Party, die den Anfang von Go&Change markiert. Es ist die Einweihungsparty einer neuen Wohngemeinschaft. Die Leute hier sind anders. Sie wirken überdreht, sagt Jana später. Die Berührungen, die Sprache, der Umgang – alles scheint intensiver. Wie bei einer Familie, die sich schon immer kennt. Jana erzählt im Nachhinein, sie sei zu müde gewesen, um auf dieser Party den Mann wahrzunehmen, dem sie später folgen wird. Zum Zeitpunkt der Party in Halle ist Kai K. noch kein Guru. Eher ein »stiller Lenker«, wie eine Aussteigerin sagt. Er habe »Antennen«, sagt eine andere, könne an Körpersprache und Mimik genau ablesen, was Menschen gerade bewegt.

Auf solchen Partys habe sich deshalb zu späterer Stunde immer eine Traube aus Menschen um ihn gesammelt. Nicole, die Jana später im Kloster kennenlernt, hat K. mal gefragt, wie er das macht, so erzählt es Nicole heute. Dieser Blick, unter dem man sich plötzlich wie nackt im Scheinwerferlicht fühlt. Diese geheimnisvolle Aura, die zulässt, dass man ihm die intimsten Fragen beantwortet. Diese Ausstrahlung, die ihn trotz seiner untersetzten Figur attraktiv macht. Viele Frauen werden rückblickend sagen, dass Kai K. nie ihr Typ war. Trotzdem begehrten sie ihn.

Während andere tanzen, nimmt er Stift und Zettel und zeigt Nicole, wie er es macht: Er schreibt Namen von Anwesendenauf, ordnet ihnen »Anteile« zu: Prinzessin, Arschloch, Löwin. Es entsteht ein Piktogramm aus Linien und Worten. Es soll zeigen, wie Personen miteinander interagieren, wo sie sich verbinden, wo es krachen muss. »Ich dachte sofort, ich will verstehen, wie dieser Mensch die Welt wahrnimmt. Ich fand das unglaublich faszinierend und gleichzeitig gruselig«, sagt Nicole. Unsympathisch, unheimlich, unangenehm:

Keine der Frauen hatte einen guten ersten Eindruck von Kai K. Auf zwei Etagen trifft sich sein Freundeskreis bald regelmäßig in der Wohngemeinschaft in Halle. Mittwochs ist »Runde«: Anteile analysieren, Familiengeschichten aufdröseln, »Schatten« bearbeiten. Je härter die Wahrheit ausgesprochen wird, desto besser. Radikale Ehrlichkeit. Kein Konsens-Blabla wie in vielen anderen linken Gemeinschaften. Jana kommt immer häufiger zu Besuch. Kai K. leitet diese Runden gemeinsam mit seinem Freund Felix K. »Felix ist der Intellektuelle, aber was das Manipulieren angeht, ist ihm Kai haushoch überlegen«, sagt eine Aussteigerin. Tom V. interessiert sich zu der Zeit nicht für Spirituelles. Er hat gerade eine neue Aufgabe in einem Gartenprojekt gefunden. Als 2017 ihr erstes Kind geboren wird, fühlt sich Jana oft allein. Sie habe sich nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft gesehnt, sagt sie heute. Und nach Unterstützung. Auch Tom ist unwohl bei dem Gedanken, klassische Rollenbilder zu reproduzieren. Heute sagt er: »Uns war klar, dass wir diese Lebensform nicht wollen auf Dauer.«

Die Wohngemeinschaft in Halle reicht der Gruppe bald nicht mehr. Sie hätten eine Immobilie gefunden, heißt es eines Tages, in Süddeutschland. Ein altes Kloster. Der Garten so groß, dass man sich selbst versorgen kann. Die Kinderbetreuung würden sie gemeinschaftlich aufteilen. Die Erwachsenen hätten dann Zeit, sich mit den eigenen inneren Prozessen zu beschäftigen. Wenn sie wollen, könnten sie sich das mal anschauen. Tom ist skeptisch, trotzdem fährt das Paar hin. Jana fährt erneut hin und nach wenigen Tagen gleich noch mal. Plötzlich ist da wieder ein Ziel in ihrem Leben. Go&Change heißt die Gemeinschaft in Lülsfeld bei Schweinfurt. Und Jana braucht dringend eine Veränderung.

»Ich habe mich total hin und her gerissen gefühlt, weil das für sie scheinbar das Richtige war. Gleichzeitig habe ich schräge Geschichten über diesen Ort gehört«, sagt Tom V. Er ahnt, wenn er nicht mitgeht, wird er Jana verlieren. 2018 gehen die beiden in »Annäherung«, das heißt: Immer wieder besuchen sie das Kloster für mehrere Tage, nehmen am Alltag und an Gruppenrunden teil und werden in den Zeiten dazwischen vom ihnen zugeteilten »Buddy«, einer festen Bezugsperson, regelmäßig angerufen. Im Februar 2019 kündigt Tom seinen Job. Sie ziehen ins Kloster. Jetzt beginnt die »Probezeit«.

II Ankommen

Lülsfeld schmiegt sich in eine Landschaft aus weichen Hügeln, wie aus einem fränkischen Werbeprospekt. Ein kleiner Ort, gerade mal 800 Einwohner, ein Kindergarten, ein Fußballplatz, ein Friedhof. Einziger Ausreißer in der Skyline aus Fachwerkgiebeln: die gelb gestrichene Klosteranlage Maria Schnee mit ihren Türmchen auf dem Dach. Hinter dem Hauptschiff erstreckt sich der Garten mit mehr als 500 Obstbäumen. 125-jähriges Bestehen feiern die Erlöserschwestern noch, bevor das Objekt 2015 zum Kauf freigegeben wird. Eine neue Generation soll übernehmen. Am liebsten ein soziales Projekt. Für 399 000 Euro verkaufen sie 2017 die Immobilie mit 2700 Quadratmetern Wohnraum und noch mal knapp zehnmal so viel Außenfläche. Die damalige Freundin von Felix K., bis heute Gesch.ftsführer der gemeinnützigen Unternehmergesellschaft mit dem Namen Go&Change, hat geerbt. Eine Person, die den Kauf begleitet hat, erzählt: »Sie wurde stundenlang beackert, dass das Kloster die einzig sinnvolle Investition ist und wir ihre neue Familie werden.« 

250 000 Euro steuert K.s Freundin bei. Ein Nachrangdarlehen, die unsicherste Form der Direktkredite. Sollte die Gruppe insolvent gehen, würden diese Schulden als Letztes getilgt, wenn überhaupt. Den Rest finanzieren Spenden und ein Kredit der GLS Bank. Als die ersten sechs Menschen das Kloster betreten, ist die Stimmung euphorisch, so erinnert sich eine, die dabei war. Sie putzen tagelang, fegen säckeweise tote Fliegen aus den verlassenen Stuben und bereiten alles für die Ankunft weiterer Mitbewohner vor. In den alten Schwesternzimmer werden sie wohnen: je zehn Quadratmeter, zwei Einzelbetten, Waschbecken, Schrank. In den folgenden Monaten schließen sich mehr als zwanzig weitere Menschen an. Sie sind jung, studiert, sozial eingestellt. Arbeiten als Lehrer, Ärztin, Kinderpfleger. Viele kennen die Gruppe noch aus Halle. Und fast alle sind in einer Krise, für die sie in ihrem alten Umfeld keine

Lösung gefunden haben. Maries Freund ist kürzlich verunglückt. Tabea steckt in einer schweren Depression. Elsa ist in einem Rechtsstreit um ihr Kind. Malte hat gerade sein Studium abgebrochen. Da sind aber auch Menschen wie Sophie, die ihr Leben schon immer in ähnlichen Gemeinschaften verbracht haben. Heute sagt sie: »Das waren keine verstrahlten Esos, keine verloren gegangenen Dauer-Tramper. Die wurden manipuliert.« 

»Ich war von Anfang an beeindrucktvon der Gruppe«, sagt eine junge Frau, »ich hatte sofort das Gefühl, aufgefangen zu werden.« Eigentlich wollte sie nur für eine Woche kommen. Sie bleibt fast zwei Jahre. Ihr Leben in Halle sei ihr plötzlich oberflächlich und langweilig vorgekommen. »Am Anfang war da diese Experimentierfreude unter Gleichgesinnten, ein Neuanfang«, sagt ein Gründungsmitglied. »Wenn alle an einem Strang ziehen – das ist ein tolles Gefühl.« Die meisten kommen über Liebesbeziehungen oder Freundschaften ins Kloster. Durch Menschen, die ihnen nahestehen. Denen sie vertrauen.

Jana kommt im Winter 2018 mit Tom und dem Kind an. Ein alter Freund, der bereits dort wohnt, holt sie ab. »Für mich war es ein Nach-Hause-kommen-Gefühl, als wir das allererste Mal durch diese Einfahrt gefahren sind«, sagt Jana heute. Die Gruppe wirkt auf sie enger verbunden als jede Freundschaft, die sie bisher hatte. Als die beiden einziehen, leben knapp 60 Erwachsene und ein Dutzend Kinder im Kloster. Sie teilen alles: den Garten, das Geld, die Freizeit. Ein Sofazimmer wird eingerichtet, für »Gruppenprozesse«. Ein Spielzimmer für die Kinder. Zwei Personen pro Schlafzimmer. Es gibt einen Tagesplan, Kinderbetreuung, ein Garten- und ein Küchenteam. Struktur. Genau, wonach Jana suchte. Heute sagt sie: »Am Ende steht die Unterstützung, die ich am Anfang bekommen habe, halt nicht im Verhältnis zu dem, was dann passiert ist.«

III Vertrauen

Besonders ein Bild ist dem Beauftragten für Interreligiösen Dialog und Weltanschauungsfragen der Diözese Würzburg, Jürgen Lohmayer, nach seinem Besuch im Kloster 2019 in Erinnerung geblieben. Die Gemeinschaft hatte ihn mit weiteren Kolleginnen und Kollegen aus Bayern zu einem Informationsgespräch eingeladen, Gerüchte würden sich verbreiten. Er freute sich über die Einladung: Sein Ziel sei es, mit solchen Gruppen zu sprechen statt über sie. Er habe die Mitglieder damals als »jung, idealistisch und gesellschaftskritisch« wahrgenommen, sagt Lohmayer. Seit dem Kauf des Klosters wurde der Theologe immer wieder von Verwandten kontaktiert: »was das für eine Truppe sei«.

Das Bild, das Lohmayer damals im Kloster sah, liegt dem SZ-Magazin aus anderer Quelle vor. Es zeigt ein Poster, auf dem mit Stecknadeln Fäden und Kreise gespannt sind. Dazwischen Zettel: »Schwurgruppe«, »Vertrauensgruppe«, »Kerngruppe 1 und 2«. Mehr als 30 Personen sind diesen Gruppen zugeordnet. Daneben eine Auflistung der »Bewusstseinsgruppen«. Bis auf eine Ausnahme befinden sich auf den höchsten Bewusstseinsstufen nur Männer. In der Mitte des Kreises und ganz oben auf der Liste: Kai K. und Felix K. Ihre Namen  zieren kleine Papp-Kronen. Der Name von Kai K. klebt ein bisschen höher als der von Felix K.

Beim Gespräch mit Jürgen Lohmayer fehlt Kai K. Auf einem Foto aus der Anfangszeit des Klosters winken 30 Erwachsene, die Kinder auf dem Arm, von der Treppe des Klosters. Auch hier fehlt Kai K. Der sei immer kurz vor Fototerminen verschwunden, sagt eine Aussteigerin. Er habe gesagt, seine Energie sei zu stark für die Außenwelt. Jene Aussteigerin und Kai K. kennen sich aus der »integralen Szene«. Eine spirituelle Bewegung, importiert aus den USA. In mehr als 25 deutschen Städten gibt es sogenannte Salons. Einen davon leitet Felix K. Die Anhängerinnen und Anhänger der »integralen Szene« streben eine Welt an, in der Wissenschaft, Spiritualität und Kunst gleichwertig sind. Die Gemeinschaft Go&Change schreibt über sich selbst: »Wir sind davon überzeugt, dass es gelingen kann, eingefahrene Muster, Strukturen und limitierende Glaubenssätze nachhaltig zu verändern. So gelangen wir zu einer integrierteren Menschheit mit weniger Leid, mehr Bewusstheit und mehr Lebensqualität.« Über allem stehe die Liebe. Wer es schaffe, all diese Ebenen gleichzeitig wahrzunehmen, könne seine »Schatten« überwinden und steige in der Bewusstseinshierarchie auf. Wer genau das geschafft hat, darüber gibt es in der Szene mehr Streit, als sie Mitglieder hat. Die Bewusstseinsstufen folgen einer Farbskala. Türkis die Erleuchteten, grün das »Fußvolk«, wie es eine Aussteigerin ausdrückt. Nur ein Prozent komme in den türkisen Bereich, habe Kai K. ihr erklärt. »Er selbst ist natürlich türkis. Aber wie genau er das geschafft hat, wurde nie hinterfragt«, sagt sie. »Das war von Anfang an gesetzt.«

Vor mehr als zehn Jahren fand Kai K. mit der Gruppe »WIR gemeinsam« im Ruhrgebiet Anschluss an diese Szene aus Verschwörungsideologien, Meditation und Weltuntergangsszenarien. Eine ehemalige Mitstreiterin erinnert sich an den Kai K. von damals: »Der hatte überhaupt nichts zu melden, saß eher still in der Ecke. Ein unauffälliger Typ.« Selbst Menschen, die jahrelang mit ihm zusammengelebt, sogar Liebesbeziehungen mit ihm geführt haben, kennen von Kai K. nur den Mythos: Ein Mann, dem das harte Leben die Augen geöffnet hat. So viele Stationen im Lebenslauf, den Aussteigerinnen wiedergeben, wie sie kaum in 40 Jahre passen: Harte Kindheit im Arbeiterviertel Gelsenkirchens, eine gewaltvolle Mutter, Aufwachsen im Lokal der Großmutter und im Heim, Konvertierung zum Islam, fast noch als Jugendlicher Vater geworden, Sorgerechtsentzug, Geldeintreiber im Drogenmilieu, Elitesoldat bei der Bundeswehr. Er selbst gibt in der Bewerbung beim Kauf des Klosters an, Mechatroniker zu sein. Über seine Erweckung kursieren ähnlich viele Gerüchte. Die einen sagen: Krebs. Die anderen: ein Aneurysma. Alle glauben, er habe Jahre im Krankenhaus verbracht, vielleicht im Koma. Bis heute dürfe er deshalb nicht Auto fahren. In einem andern Kloster habe er zur Spiritualität gefunden.

Für Jana ist die Hierarchie in Lülsfeld eine Entlastung. Jemand anderes entscheidet jetzt, wie ihr Tag aussieht. Sie kann es kaum erwarten, den Punkt neben ihrem Namen an der Pinnwand abzunehmen. Der steht für »Probezeit«, und die ist jetzt, im August 2019, endlich vorbei. Schnell werden Tom und sie in den Klosteralltag eingebunden. Die Tage sind durchgetaktet. Sieben Uhr: Yoga, Sport oder Tanzen. Halb acht: Frühstück, Morgenrunde, Aufgabenverteilung. Bis zum Mittagessen: Arbeit im Büro, Haus oder Garten. Nach dem Mittagessen: Arbeit, Gruppenzeit, Abendessen. Danach Prozessarbeit bis tief in die Nacht. Das Leitungsteam entscheidet, wie der Tag strukturiert ist. Wer weiter unten in der Bewusstseinshierarchie steht, putzt. Eine Frau erinnert sich: »Ich musste immer kochen oder putzen. Ich habe gedacht, das ist eine Demutsübung, um den Charakter zu bilden. Gleichzeitig gab es immer einen Teil in mir, der sich überhaupt nicht gesehen gefühlt hat. Ich habe ein Uni-Diplom.« Eine andere sagt: »Trotz Rückenschmerzen habe ich das nicht als negativ wahrgenommen, es war ja für die Gemeinschaft.« Jana verwaltet bald den Kalender mit. Die anderen müssen ihr Termine melden. Arbeitsamt, Arzt, Elternabend. »Man musste absprechen, wenn man einen Spaziergang machen wollte. Allein ein Zeitfenster zu finden, wo es passen könnte, war schwierig. Dass jemand alleine einfach losgeht, war nicht gern gesehen und hat auch niemand gemacht«, erzählt eine Aussteigerin.

In unregelmäßigen Abständen gibt es den »freien Tag«. Jana organisiert, wer mitdarf: »Fünf Menschen wurden von der Klosterleitung ausgesucht. Die haben 100 Euro bekommen und durften einen Tag lang machen, was sie wollten. Süßigkeiten kaufen, Kaffeetrinken gehen oder ins Kino. Aber zwischenzeitlich waren wir 60 Leute – da kannst du dir ausrechnen, wie oft du frei hast.« In den Mauern des Klosters sind Kaffee und Nikotin nur zu bestimmten Anlässen erlaubt. Alle leben vegan. Das sei am »liebevollsten«, habe Kai K. gesagt. Ein »Commitment«, keine Regel. Die Gemeinschaftsmitglieder schicken monatlich Kontoauszüge an Felix K. und einen Kollegen. Die entscheiden dann, wer welche Rechnung bezahlt. 600 Euro zahlen Mitglieder in der Probezeit für Miete und Lebensmittel, danach geht das gesamte Konto in die Gemeinschaft über. Ein Kennenlernwochenende im Kloster kostet zwischen 300 und 400 Euro. Eingekauft wird kollektiv. Wer eine neue Hose will, muss zu K. und danach fragen. Er entscheidet, ob sie notwendig ist.

Auf einer Liste sammeln Jana und Tabea die Versäumnisse. Kontoauszüge nicht geschickt? Ein Strich. Zuspätkommen? Ein Strich. »Telefonbuddy« nicht angerufen? Ein Strich. »Verpassana« nennen sie das System. Bei Verspätung wird eine Stunde lang meditiert. Als Chance, ein besserer Mensch zu werden. Bis zu acht Stunden hätten Mitglieder ihre Strafe teilweise abgesessen. Rückblickend schämt sich eine Aussteigerin: »Wenn man in so einem hierarchischen Konstrukt lebt, wo andere bestimmen, dass sich von einer Minute auf die andere alles ändern kann, dann ist es toll, selbst mal kontrollieren zu können. Und das dann auch auf die Sekunde genau zu nehmen.« Nur Felix K. und Kai K. sind von diesem System ausgenommen.

Kai K., das glaubt Jana ihm anfangs, mache für sich Sport, meditiere allein. Vom Geld der Gemeinschaft kauft er sich ein E-Bike. »Kai hat sich das verdient,

der arbeitet am härtesten von uns allen« , erklärt sie sich damals selbst. Er hat ein eigenes Schlafzimmer, das andere ihm renoviert haben, ein Büro, einen eigenen Kühlschrank. Darin Fleischersatzprodukte, Eistee und Fertig-Cappuccino aus dem Plastikbecher. Sein Essen bringen ihm Gemeinschaftsmitglieder ins Büro. Das Computer-Strategiespiel League of Legends habe er gespielt. Über Stunden, Tage, Wochen. An Weihnachten fordert er die Gruppe auf, sich von ihren Verwandten leistungsstarke Rechner zu wünschen. Nächtelang soll auch die Gruppe online zocken, ausnahmsweise gibt es Kaffee. In der Welt von Go&Change hat Kai K. seine eigenen Spielregeln geschaffen. 

»Ich bin kein Guru, ich wohne unter euch«, habe er stets betont, sagt eine Aussteigerin. Offiziell leitet eine Gruppe aus sechs Personen zu dieser Zeit das Kloster. Sie betreuen Gästewochenenden, teilen die Gruppe in Bewusstseinsstufen ein. Eine Scheindemokratie, sagt eine, die mehrere Monate lang in der Leitung war. »Es hatte viel mehr Gewicht, was man sagt«, trotzdem sei sie auch in dieser Gruppe nie sicher gewesen: »Als ich mal was kritisiert habe, wurde ich sehr stark heruntergestuft und aus vielen Dingen ausgeschlossen. Und dann musste ich erst wieder das Vertrauen erarbeiten.« Vorschussvertrauen. Das Prinzip für alle Neuankömmlinge im Kloster. Es enthebt sie aus der Eigenverantwortung und lässt die Bewusstseinsordnung natürlich erscheinen. »Im Prinzip heißt das: Ich weiß nicht, was hier passiert, aber ich bin dabei und kann danach vielleicht Fragen stellen«, so fasst Jana es zusammen. Sie hält sich daran und stellt keine Fragen. Wie alle anderen gibt sie laut ihr »Ja« zu allem, was passieren soll.

IV Schattenprozesse

Im Mai 2019 erwarten Jana und Tom ihr zweites Kind. Die Tochter ist in der Kinderbetreuung versorgt, und das Paar hat endlich Zeit, sich mit sich selbst zu

beschäftigen. »Anfangs hieß es noch: Kommt erst mal gut an«, sagt Tom. Die Schonfrist ist jedoch schnell vorbei. Wer in der Gemeinschaft leben will, muss seine »Schatten« bearbeiten: Konkurrenz, Arroganz, Narzissmus. Charaktereigenschaften, die die Welt draußen in die Seele graviert habe, erklärt eine Aussteigerin. »Wenn du deinen Schatten nicht aufarbeitest, wirst du dein ganzes Leben damit Menschen verletzen «, sei ihr gesagt worden, das habe erst mal logisch geklungen. »Spiegeln« bedeutet, diese »Anteile« seinem Gegenüber aufzuzeigen. Gespiegelt wird den ganzen Tag. Warum sagst du das jetzt? Warum verändert sich dabei dein Tonfall? Warum änderst du deine Sitzposition? Welcher Anteil spricht da gerade aus dir? Wer sich seine Anteile nicht anschaut, muss sich einem »Prozess« stellen. Anlass kann eine Situation beim Abspülen sein, ein Streit eines Paares, ein falscher Blick beim Abendessen. »Es war verpönt, zu zweit zu reden, da verbünden sich die Schatten, gerade bei unbewussten Leuten«, sagt eine Aussteigerin. »Es gab den Zwang, alles in der Gruppe zu besprechen und jede Abweichung der Leitung zu melden.«

Prozesse werden am Abend geführt. Teilweise dauern sie bis zu 18 Stunden. Schlafmangel und .bermüdung seien gut, um an den Kern des Menschen zu kommen, sagt Kai K., der vom Klosteralltag entbunden und immer ausgeschlafen erscheint.

Im Wohnzimmer, einem großen Raum mit vielen Sofas, kommt die Gruppe zusammen. »Kai ist derjenige, der dann redet«, sagt Tom. Das kommt ihm damals logisch vor. Eine Frau Anfang zwanzig erzählt: »Er hat viele Prozesse geführt, wo es Leuten danach scheinbar besser ging. Das schafft Vertrauen. Kai war mein moralischer Kompass. Wenn er gesagt hat: Das hast du gut gemacht, war ich stolz. Es war toll, von ihm gesagt zu kriegen, was meine inneren Probleme sind. Er hatte ja diesen Durchblick.«

Assoziativ kritzelt Kai K. wilde Schaubilder, malt Beziehungsnetze auf, bestimmt »Anteile«. Den Anteilen gibt er Namen: Kröte, Opfer, Fotzen-Frosch, Prinzessin. Bei ihm selbst sei der Wikinger-Anteil besonders ausgeprägt. Immer wieder soll die Gruppe auch seinen Schatten finden. Sie findet nichts.

Im Nachhinein ist es bei Kai K. wie mit dem Huhn und dem Ei: Man weiß nicht genau, was zuerst da war – die Fähigkeit, die wunden Punkte bei Menschen zu sehen, oder der Glaube daran, dass er das kann. Kleine Impulse reichen, um als tosendes Echo durch die Gruppe verstärkt zu werden. Zur Zielscheibe zu werden ist gefährlich. »Wenn jemand anderes fertiggemacht wird, und du springst in die Bresche, dann ist sofort die ganze Aufmerksamkeit bei dir, und dann wirst du fertiggemacht. Und das wollte man sich bei einer Gruppe von 40 Leuten lieber nicht antun«, sagt eine, die Gast im Kloster war.

Häufig stehen Frauen im Mittelpunkt der Prozesse. »Wenn ein heterosexuelles Paar Konflikte hatte, war eigentlich immer der Ansatzpunkt zu sagen,

die Frau würde den Mann manipulieren und kleinhalten. Diesen Frauen wurde das Leben zur Hölle gemacht«, sagt eine Frau, die sich von ihrem Partner im Kloster trennte. Mütter und Schwangere hätten es besonders schwer gehabt: »Die sind faul und wollen ständig eine Extrawurst. Die nehmen die Schwangerschaft als Vorwand. Das ist reines Ego, das muss man unterbinden.« Frauen, die im Kloster schwanger waren, berichten, dass sie bis tief in die Nacht an Gruppenprozessen teilhaben mussten, weiter im Haushalt zu arbeiten hatten und nicht essen durften, was sie wollten.

In einem Video, das zu dieser Zeit aufgenommen wurde, scheint es, als hätte die Gruppe eine eigene Sprache entwickelt. Das Geburtstagskind, für das dieses Video sein soll, wird als »Lichtwesen« und »voll in der Liebe« beschrieben. Nur der Klosterleiter Felix K. bricht mit dem Esoterik-Vokabular, indem er grinsend in die Kamera sagt: »Ich steh auf deine geilen fetten Titten.«

Tom erinnert sich nicht, wie es zu seinem ersten Prozess kam. Plötzlich ist das Paar mittendrin. Sie seien voneinander abhängig. Abhängigkeit unter Partnern, das sei gar nicht liebevoll. »Unsere Beziehung wurde komplett auseinandergenommen«, sagt er. Er unterstütze Jana nicht, sei ein schlechter Vater. »Ich habe mich mit dem Rücken zur Wand gefühlt. Wenn ich dieses Gefühl beschrieben habe, hieß es nur, komm mal aus deiner Opferhaltung raus.« Jana sagt, sie habe alle Kompetenz an Kai K. abgegeben, »er wusste besser, wie wir unsere Beziehung führen sollen«. Jana solle ihre Weiblichkeit mehr ausleben. Kai K. habe sie dafür shoppen geschickt und ihr Outfit danach beurteilt. Heute bezeichnen beide das, was mit ihnen im Kloster passierte, als »Gaslighting«: das Absprechen eigener Gefühle und das Einreden falscher Empfindungen. Die Königsdisziplin der Manipulation. Kai K. beherrscht sie. 

Die Gruppe tut, was er sagt, so erinnert sich Jana: »Es gab Prozesse, wo Kai entschieden hat, jetzt nehmen die Frauen Drogen und tragen Reizwäsche. Und die Männer waren angezogen, und dann sollten wir zusammen tanzen. Und wir haben das echt gemacht.« Es gebe eine Masche, sich Menschen willens zu machen, sagt eine, die lange im Leitungsteam des Klosters war: »Love Bombing«. Bei Tom und Jana kann man nachvollziehen, wie es funktioniert: Die Überforderung wird den jungen Eltern mit der Kinderbetreuung im Kloster abgenommen. Jana wird schnell in die Aufgabe der Organisatorin erhoben, Tom arbeitet im Garten. Positionen, die ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit geben. »Dann werden diese Sachen vor der Gruppe gelobt. Die Person fühlt sich gesehen. Sie öffnet sich und baut eine Bindung auf.« Tom und Jana fühlen sich wohl, erzählen von ihren Problemen in der Partnerschaft,

den Ängsten und Zweifeln. Ein emotionales Pfand. »Dann wird die Person in ihren sensiblen Punkten fertiggemacht. Das macht sie gefügig, weil sie alles tun wird, um die Anerkennung der Gruppe wiederzubekommen.«

V Abschottung

Frühjahr 2019. »Wir saßen abends in einer Runde«, erinnert sich Jana. »Für mich war es eine total angstbehaftete Nacht«, sagt eine Aussteigerin, »ich hatte das Gefühl, Kai macht gerade einen Rundumschlag, und ich bin nicht sicher, ob ich jetzt rausfliege oder ob in mir der Teufel wohnt.« Es ist schon nach Mitternacht, als Kai K. die Gruppe in Teams hinaus in die Kälte schickt. Besinnungsspaziergang. »Eine Mutter hat ihr Kind umgeschnallt und ist spazieren gegangen. Als sie wiederkam, war es tot.« So erzählt es Tom. Eine andere Person sagt, der Säugling habe in seinem Bett aufgehört zu Atmen. Später stellt die Kriminalpolizei den plötzlichen Kindstod fest. 

Am nächsten Morgen habe es ausnahmsweise Kaffee und Nutella zum Frühstück gegeben. Einer, der versucht habe, das Kind zu reanimieren, ist heute noch erschüttert: »Man kann jetzt niemandem die Schuld an diesem Tod geben, aber ich glaube schon, dass diese ganze Anspannung, der Schlafmangel und der enorme Stress an diesem Abend nicht spurlos an so einem kleinen Wesen vorbeigehen.« Es war ein Unfall, da sind sich alle einig.


Wenige Wochen später ereignet sich der nächste Unfall. »Die Situation war, dass die auf der Wiese Drachen steigen gelassen haben, vier Erwachsene und die Kinder. Und der Kleine ist ausgerissen, und das hat keiner mitgekriegt«, sagt Tom. Dem Bruder des Kindes soll aufgefallen sein, dass der Anderthalbjährige fehlte. Ein Teil der Gruppe ist zu diesem Zeitpunkt mit etwas anderem beschäftigt, erzählt Tom: »Wir hatten gerade einen Prozess auf LSD oder MDMA. Dann kam ein Gemeinschaftsmitglied hoch: Es gab einen Unfall! Ein Kind ist in den Teich gefallen, Rettungshubschrauber ist unterwegs. Sieht nicht gut aus.« Als im Krankenhaus die Beatmungsmaschine des Kindes abgestellt wird, versammeln sich alle im Wohnzimmer. Die Frage habe im Raum gestanden: Haben wir unsere Schatten nicht genug bearbeitet? Eine Aussteigerin, die heute eine Ausbildung zur Erzieherin macht, hat eine andere Frage: »Kann man wirklich mit vier Stunden Schlaf gut auf Kinder aufpassen?«

Wieder ermittelt die Kriminalpolizei. Wieder sind sich alle im Kloster einig: ein Unfall. Mehrere Personen werden wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht beim Amtsgericht Schweinfurt verklagt. Sie müssen jeweils 2500 Euro Strafe zahlen. Die Unfälle werden im Kloster als Chance für die Gemeinschaft gedeutet: »Es wurden Partys gefeiert, nach dem Tod. Uns wurde gesagt, das ist doch, was wir dem Kleinen schuldig sind«, sagt Tom. Nach kurzer Zeit sei den Eltern des verstorbenen Kindes gespiegelt worden, »dass sie jetzt im Opfer seien und die Trauer ihres Kindes vorschieben, um sich ihre Schatten nicht anzugucken«, erzählt eine Aussteigerin. Was für Erwachsene im Kloster gilt, das gilt auch für Kinder. Die hätten »Arschlochanteile«, habe Kai K. erklärt, und die gelte es zu unterbinden. Kinder eiskalt abduschen, auf die Treppe zum Schweigen setzen oder im Bett mit Körpergewicht fixieren, bis sie aufhören zu weinen, das seien gängige Techniken gewesen, sagt Tom. »Der Tenor war, dass es ein Machtkampf ist. Und wir müssen in diesem Machtkampf ganz klar die Oberhand haben«, erzählt eine Mutter. »Meine Linie war das definitiv nicht«, sagt Tom heute. Doch er ist damals zu verunsichert, um zu widersprechen: »Kai hat immer gesagt: Bewusstseinsarbeit, Tanzen, Kindererziehung – da ist keiner von euch in meiner Liga.« Immer wieder spielt er den unerfahrenen Eltern den Film Elternschule vor, eine Dokumentation über eine umstritteneKinderklinik in Gelsenkirchen, derenLeitung emotionaler Missbrauch vorgeworfen wird. Kai K. habe behauptet, mit dem ehemaligen Leiter dieser psychosomatischen Abteilung »zusammengearbeitet « zu haben. Dieser ehemalige Leiter gibt gegenüber dem SZ-Magazin an, einen Mann mit diesem Namen nicht ausgebildet zu haben. 

Tagsüber werden die Kinder im Kloster abwechselnd von unterschiedlichen Erwachsenen betreut. Es gibt Ausflüge und Partys. Nachts schlafen die Kinder gemeinsam in einem großen Raum. »Ich habe versucht, Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Es ging mit extremer Anstrengung vielleicht drei Stunden am Tag. Die Regel war eher eine halbe Stunde am Tag«, sagt eine Mutter, die nicht mehr im Kloster wohnt. Kai K.s Sohn hingegen brauche keine Grenzen, sondern Verständnis, habe es damals geheißen. Der sehe bereits Sachen, die Erwachsene nicht verstehen könnten. Als Toms Schwester zu Besuch kommt, ist sie schockiert: »Ich konnte nicht mit ansehen, wie mit den Kindern umgegangen wird«, erzählt sie. »Ich konnte da nicht übernachten.« Freunde kommen immer seltener zu Besuch. »Irgendwann dachte ich: Das sind keine Freunde«, sagt Jana. Eine Aussteigerin berichtet, sie habe sich jede Woche zum Telefonieren im Kloster versteckt, aus Angst, die Gruppe könnte entscheiden, der Kontakt sei nicht gut für ihre Entwicklung. Eine andere sagt: »Es wurde ein Keil zwischen die Person und die Familie getrieben. Und dann wurde gesagt: Wir sind deine wahre Familie, zu Hause musst du dich immer verstellen.« Besuche im alten Leben müssen bewilligt werden. Eine Frau erzählt, dass sie bei einem Besuch in Halle täglich angerufen worden sei: »Ich sollte berichten, was für Prozesse ich gerade zu Hause durchmache, sollte Sprachnachrichten schicken.« Es sei vorgekommen, dass man von Familienbesuchen »zurückgepfiffen« wurde.

Die einzige Möglichkeit rauszukommen,sind Aktivitäten im Dorf. Feuerwehr, Fußballverein, Kettensägenkurs. Beim Dorffest wird Alkohol getrunken. Abstinenz wäre in Bayern auffällig. Ihre Arbeit als Physiotherapeutin hat Jana seit dem Umzug nicht mehr aufgenommen. Die meisten Neuzugänge im Kloster brechen den Kontakt zur Außenwelt, ihr Studium oder die Ausbildung ab. Eine ehemalige Bewohnerin erklärt: »Es wird dieser Grundkonflikt aufgemacht: Wenn man am Sterbebett liegt, auf was für ein Leben möchte man zurückblicken? Diese weltlichen Dinge sind dann nicht so wichtig.« Das führe neben der emotionalen auch zu einer finanziellen Abhängigkeit. Einer Frau Anfang zwanzig, die ein Fernstudium beginnen wollte, sei gesagt worden: »Das ist ein Vertrauensbruch. Du hast Abwanderungsgedanken, weil du gerade in deinem Schatten bist und uns nicht vertraust.« Auf ein Studium habe sie sich nicht mehr beworben. Noch heute fällt es Tom schwer, Dinge zeitlich einzuordnen: »Man sagt

V Eiszeit

Im Sommer 2019 beginnen Toms letzte Monate im Kloster mit Jana. Er nennt diese Phase heute die »Eiszeit«. Kurz zuvor wurde ihr zweites Kind geboren, kurz danach beginnen die Prozesse. Kein Paar ist nach dem Einzug ins Kloster so lange zusammengeblieben wie die beiden. Der Vorsatz, gemeinsam zu wachsen, wird torpediert. Tom sei eigentlich homosexuell, da ist sich Kai K. angeblich sicher. Plötzlich »spiegelt« die ganze Gemeinschaft ihm: Den homosexuellen Anteil musst du dir angucken. Jana findet das auch. An einem Samstag, wie immer ist Party, schläft Tom mit einem Mann, den Kai K. für ihn ausgesucht hat. Er habe da eine gute Zeit gehabt, sagt Tom im Nachhinein. Allerdings habe er an diesem Abend auch sehr viele Drogen genommen. Und eigentlich habe er es für Jana getan: »In unserer Beziehung gab es danach wieder ein kleines Hoch. Ich hatte der Gemeinschaft gezeigt, dass ich an meinen Anteilen arbeite. Als Paar wurden wir dann kurz in Ruhe gelassen.

« Zu Männern habe er sich seitdem nicht hingezogen gefühlt. Wie Tom geht es vielen Männern: Tabeas Freund entdeckt kurz nach der Ankunft seine Homosexualität. Oliver verlässt Matthea nach einer langen Beziehung für einen Mann. Karl findet heraus, dass er schwul ist. Das sei eigentlich nicht problematisch, meint eine Aussteigerin, »wenn es nicht immer nach dem gleichen Schema ginge: Der Mann wird schwul, und die Frau wünscht sich, mit Kai zu schlafen.« Kai K. selbst hingegen habe keinen homosexuellen Anteil, »das stand nicht zur Debatte«. »Kontexte« werden die Sexualpraktiken im Kloster genannt. Kai K. entscheidet, wann und wie sie stattfinden.

Er selbst sei in seinem letzten Leben eine Frau gewesen und wisse deshalb, wie diese ticken. Er könne Frauen zu ihrer wahren Sexualität verhelfen, Blockaden lösen, sie »heilen«. Eine junge Frau erinnert sich an ihren ersten »Heilungskontext«: »Wir saßen im Kreis auf Sofas. In der Mitte lag eine Matratze, und zwei Gemeinschaftsmitglieder hatten Sex. Dann hat Kai gefragt, wer noch weiter gehen möchte. Der Raum wurde abgedunkelt. Die Männer sollten sich aufstellen, und die Frauen sollten sie oral befriedigen. Ich weiß noch, dass ich es eklig fand und das auch gesagt habe, weil die Männer sehr unangenehm rochen. Da hieß es nur, das ist mein Schatten, den muss ich überwinden. Am Ende hatte ich dann mit Kai Sex. Ich war Anfang zwanzig und er Mitte dreißig. Ich war so unsicher.« Die Aufmerksamkeit des Gurus mache abhängig. »Ich wollte immer in seiner Nähe sein, denn bei ihm ging es mir gut. Mit mir alleine ging es mir nicht gut«, sagt sie. »Kontexte« finden statt, wenn Kai K. danach ist. Ein Privileg: »Alle wollten bei diesen Kontexten mitmachen, und die wenigsten durften, vor allem nicht die Männer. Natürlich habe ich mich auch toll gefühlt dazuzugehören«, sagt die Frau, die damals Anfang zwanzig war. Nach nächtelangen »Kontexten« habe es manchmal Pommes gegeben, und man habe bis zehn ausschlafen dürfen.

Das Dogma der befreiten Sexualität funktioniert als Druck- und Kontrollmittel. Regelmäßig fragt Kai K. in der großen Runde ab, wer wie oft mit wem geschlafen hat. Wie ein Regisseur inszeniert er Szenarien, die er der Gruppe als »Übungen« verkauft: Wer keinen Blümchensex mag, soll einen Monat lang nur Blümchensex haben. Andere Paare, ist zu hören, sollten jeden Tag Sex haben. Wenn sich die Frau weigerte, sei in der Gruppe besprochen worden. Es sei »ein bisschen wie Lob und Tadel« gewesen, sagt Jana, »manche hatten Sexverbot, für manche wurden extra viele Heilungskontexte gemacht. Meistens war es Kai mit vielen Frauen.« Von den sexuellen Kontexten ist Jana durch die Schwangerschaft zunächst ausgenommen. Später wird sie mit einem Mann verkuppelt, den sie unattraktiv findet: »Mit dem hätte ich nie was angefangen. Das war auf jeden Fall Zwang. Aber ich wollte so sehr dazugehören.« Anfangs gibt es einen, später zwei Räume für sexuelle Kontexte. Der Raum unter dem Dach ist mit Matratzen ausgelegt, der Raum im Keller gefliest. Wer mitmachen will, solle sich vorher in Nürnberg auf sexuelle Krankheiten testen lassen und von Kai K. eingeladen werden, heißt es. Dessen Inszenierungen werden für die Teilnehmenden immer unberechenbarer. 

Häufig sollen Frauen sich einölen, fast immer nehmen sie den devoten Teil der Inszenierung ein. Praktiken von Sado-Masochismus werden im Heilungskontext zur Regel. Eine Frau sagt, sie habe ihr Familientrauma aufarbeiten sollen, indem andere Frauen sie mit verschiedensten Gegenständen penetrierten. Kai K. habe sie dabei dirigiert. Ein andermal seien Frauen die Augen verbunden worden, und Kai K. habe entschieden, mit wem sie schlafen werden. Oft in Kombination mit Drogen – MDMA oder LSD. Tabea erinnert sich an eine zu hohe Dosierung. In dem kleinen Raum sei es stickig gewesen, mehr als sieben Menschen auf zwölf Quadratmetern, in der Mitte ein Eimer. Auf die Toilette zu gehen sei nicht erlaubt gewesen. Das unterbreche den Prozess. Als sie sich habe übergeben müssen, habe Kai ihr gesagt: »Du bist in deinem Opfer.« Eigentlich gibt es für solche Situationen im Kloster ein »Safe Word«: Blue Moon. Ausgesprochen, soll es zum Abbruch der Sexualpraktik führen. Tabea sagt, sie habe es nie benutzt, aus Angst, nicht mehr mitmachen zu dürfen. Mehrmals sei das Safe Word gefallen, sagen Aussteigerinnen. »Dann wurde darüber geredet, ob das gerade sinnvoll ist und was der Schatten ist, der das gerade gesagt hat. Das Ende vom Lied war: Der Kontext ging weiter«, berichtet eine Frau. Auch Tom erinnert sich an eine Situation, in der einer Frau die Augen verbunden und sie gefesselt und geknebelt gewesen sei. Ihr Widerstand sei als »Anteil« bewertet worden, der gerade ausgetrieben werde. »Als die Frau da rauskam, war die gebrochen, die war kaputt und ist es bis heute«, sagt eine, die dabei war. Frauen, die einen Kontext abbrechen, hätten es nicht geschafft, ihr Ego zu überwinden. 

Mindestens sechs Aussteigerinnen berichten von mehreren Vergewaltigungsvorwürfen gegenüber Kai K. In langen Prozessnächten seien diese Vorwürfe »wegdiskutiert« und die Frauen »über Stunden komplett zerlegt« worden. Eine Frau sei mitten in der Nacht auf die Straße gesetzt worden.

Dieses Muster habe sich insbesonderebei Sexualpartnerinnen von Kai K. wiederholt. »Erst ist sie die Liebe seines Lebens,dann behandelt die Frau ihnschlecht, dann muss sie weg. Dann kommt die nächste. Die gleiche Geschichte «, sagt eine Aussteigerin: »Ich habe das in zwei Jahren mindestens fünfmal erlebt.« Die »Vampirfürstinnen«, wie Kai K. sie bezeichnet, werden in einer benachbarten Wohngemeinschaft in Gerolzhofen untergebracht und dürfen das Kloster nur noch mit Erlaubnis betreten. »Er hat sie im Prinzip ausgesetzt und gleichzeitig eine Abhängigkeit aufgebaut, indem er so tat, als ob sie noch mal eine Chance kriegen«, sagt Jana. »Im Endeffekt war keine Frau gut genug für ihn.« Tabea bemerkt: »Die Frauen sind immer jünger geworden.

Am Ende hat er mit einer 18-Jährigen Sex gehabt und war selber an die vierzig.« Eine Person, die Kai K. sehr nahestand, sagt, der Kipppunkt sei mit dem Ende der Beziehung zwischen Kai K. und einer Frau gekommen, mit der er auch ein Kind im Kloster hat. Von da an sei er »völlig abgedreht«. Auf die Frage, ob sie sexualisierte Gewalt erlebt haben, antworten die meisten Aussteigerinnen sinngemäß wie Tabea: »Gegen meinen Willen war es nicht, aber zu diesem Zeitpunkt habe ich auch keinen eigenen Willen mehr gehabt. Ich kannte meine Grenzen nicht mehr.« Tom, der bei zwei Kontexten dabei war, sagt: »In dem Moment haben wir das aus Liebe gemacht für unsere Schwester. Wir haben ihr geholfen, ihr Problem zu bearbeiten.« Seine Erinnerung an die »Eiszeit« ist trüb. Seine Zweifel an der Gemeinschaft kann er damals nicht äußern, dann wäre er »im Opfer drin gewesen«. Doch an Janas ratloses Gesicht am Abend, bevor er flieht, erinnert er sich noch sehr genau. »Was ist mit dir los?«, fragt sie. »Ich schwimme«, antwortet er. Es ist ihre letzte Unterhaltung im Kloster.

VII Kollaps

Tom spricht langsam, wenn er sich an den Abend seiner Flucht im Winter 2020 erinnert: »Es war eine körperliche Reaktion. Ich habe gemerkt, geistig

komme ich da nicht raus.« Als er nach einer schlaflosen Nacht sein Handy wieder einschaltet, sieht er auf dem Display eine Nachricht von Jana: »Tommi, komm nach Hause.« Da brechen die Tränen aus ihm heraus. Sie schreibt außerdem: »Kai möchte, dass du Urlaub machst, wenn du wiederkommen willst, zwei Wochen Karibik oder so.« Er nimmt den nächsten Zug in Richtung Norden. Noch auf dem Weg zu seiner Mutter ruft Jana an: »Was machst du? Komm zurück, Kai meinte, du sollst zurückkommen, und dann kannst du zwei Wochen Urlaub machen». Er kehrt um. »Ich hätte es durchziehen sollen«, sagt er heute. 

Im Kloster erwartet ihn Kai K. in seinem Büro. Er umarmt Tom. Tom soll sich entspannen mit Matze, einem Freund der Gemeinschaft. Zusammen sollen sie nach Thailand. Vielleicht entdecke er da seine Homosexualität weiter. Er solle Jana nicht anrufen. Die beiden bräuchten Abstand. Nie waren sie so lange getrennt voneinander. An das Kontaktverbot halten sie sich nicht. Als er zurückkommt, sei da ein kurzes »Hochgefühl« gewesen. »Die Sorgen von davor waren vergessen«, sagt Tom. Doch schnell ist sich die Gruppe einig: Tom habe im Urlaub nicht genug an sich gearbeitet. Die Bewusstseinsstufen haben sich im Kloster mittlerweile in der Architektur verfestigt. Im »Mafiazimmer« trifftsich die Leitung. Der Raum ist mit einem Türcode verschlossen. Fast täglich hält die Klosterleitung hier die Prozesse der Mitglieder auf Zetteln an der Wand fest. »Allen, die in diesen Raum zitiert wurden, stand der Schweiß auf der Stirn, die meisten wurden dann rausgeschmissen«, sagt eine Aussteigerin.

Unten, im Wohnzimmer, halten sich jene auf, die am wenigsten »liebevoll« sind. Damit ihre Schatten sich nicht verbinden, sollen die »Untis« nur das Nötigste miteinander und mit anderen Gruppenmitgliedern reden. Sie essen zu anderen Zeiten und verbringen den Tag mit Putzen und Meditieren. Sie

werden von einer Person mit höherem Bewusstsein überwacht. Tom kommt nach der Thailand-Reise zu den »Untis«. »Diese Entwürdigung hat eine sehr schräge Gruppendynamik gemacht«, sagt eine Aussteigerin, »niemand wollte mit denen was zu tun haben.« Jana wendet sich immer mehr von Tom ab. Ende Januar 2020 gibt sie ihm vor der gesamten Gruppe ihren Ehering zurück. »Ich habe den nicht angenommen«, sagt Tom. »Ich habe gesagt, das ist dein Ring. Sie war völlig aufgelöst. Ich habe mich gefühlt wie ein toter, erstarrter Käfer.« Das sei sein Narzissmus, sagt Kai. Er sei empathielos und egozentrisch. Nach einem Prozessabend, so schildert Tom es heute, spricht eine Stimme aus ihm, und sie spricht direkt zu Kai K.: »Stimmt.« Er steht auf und geht. Kurz noch in den »Wutraum«, drei Boxsäcke hängen dort von der Decke.

»Ich habe so lange geschrien und draufgehauen, bis ich nicht mehr konnte. In der Nacht habe ich realisiert: Ich muss hier nicht mehr sein. Und es hat sich sehr gut angefühlt.« Dieses Mal reist er direkt zu seiner Mutter, das Handy lässt er ausgeschaltet. Fast zwei Monate lang bleibt er in stationärer Therapie. Janas Zeit allein mit den Kindern im Kloster sei »als eine Suppe« vergangen, sagt sie heute, »es gab nur noch Intensivzeiten. « Die Gruppe ist damals auf knapp 15 Mitglieder geschrumpft. Zwischenzeitlich waren es mehr als 60. »Ich glaube, Kai hat Panik bekommen, dass er nicht mehr alle kontrollieren kann«, sagt ein ehemaliges Mitglied des Leitungsteams: »Er hat dann alle rausgeworfen.« Eine, die im Leitungsteam war, sagt: »Das Narrativ war: Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen. Jetzt wird die Gemeinschaft auf den wichtigsten Kern reduziert. Und jeder, der nicht weiterkämpft, ist nicht willkommen.« »Heimkehr« nennt Kai K. diese Zeit.

Die »Intensivzeiten« folgen keinem geregelten Tagesplan mehr. »Damals haben wir teilweise zwei, drei Wochen lang fast jeden Tag irgendeine Dosis reingeschoben bekommen«, sagt eine aus dem ehemaligen Leitungsteam. »Es war unabhängig von der Tageszeit«, sagt die Aussteigerin. »Drogen gab’s, wenn Kai Langeweile hatte.« LSD oft auf einem Keks, MDMA noch dazu, immer öfter auch Alkohol. Kai K. und das Leitungsteam entscheiden. Dann ist Party oder Prozess. Mindestens zwei Personen verlassen das Kloster mit einer Psychose. Auch bei sexuellen Kontexten werden weiter Drogen eingesetzt. »Inwieweit kann man noch entscheiden, dass man irgendwas machen möchte, wenn man nicht mal selbst entscheidet, wie viele Drogen man nimmt?«, fragt eine, die sich an Teile dieser Kontexte nicht mehr erinnern kann.

Im Frühjahr 2020 ist nur noch der »harte Kern« im Kloster. Jederzeit kann eine Party stattfinden, ein sexueller Kontext, wird jemand rausgeschmissen. Unter dem Vorwand, die Gruppe zu stählen, denkt sich Kai K. immer neue Übungen aus. »Es war ein Psycho-Military-Bootcamp«, sagt ein ehemaliges Mitglied des Leitungsteams: »Exzessiver Drogenkonsum, tagelange Prozess-Runden mit Anwesenheitspflicht, Ausharren in Hunger, Kälte oder Hitze und massiver Schlafentzug.« Es sei »Kais Paradies« gewesen, sagt eine, die dabei war.

Aussteigerinnen schildern auch Ohrfeigen,um vor allem Frauen ihre »Anteile« auszutreiben. »Wenn du nicht doll genug zugeschlagen hast, wurde angedroht, dass du dann selber eine Ohrfeige von Kai kriegst. Oder dass du dann rausgeschmissen wirst. Klar schlage ich dann zu«, so schildert eine junge Frau die Dynamik. Die roten Flecken seien mehrere Tage lang im Gesicht der anderen zu sehen gewesen. 

Vor ihrer Zeit im Kloster habe Jana nicht mal an einer Zigarette gezogen, sagt sie. Ihr Kind könne auch drei Tage lang ohne Stillen auskommen, meint die Gruppe, sie könne die Milch ja vorher abpumpen. »Ich habe gesagt, ich will nicht«, sagt sie, »aber dann hieß es, das sei zu meinem Besten. Wir machen das, damit wir uns entwickeln. Und ich wollte mich ja entwickeln. Ich wollte unbedingt dazugehören.« Sie raucht Marihuana, bekommt schnell härtere Drogen. Einmal hat sie einen schlechten Trip, rennt einen Abend im Kreis. »Niemand hat mir geholfen, ich dachte, ich werde wahnsinnig«, sagt sie.

Ein andermal sitzt sie apathisch in der Ecke. Ihr neuer Partner, ausgesucht von Kai K., ohrfeigt sie, bis jemand dazwischengeht. »Ich wollte bis zum Schluss, dass das mein Zuhause ist und meine Familie. Mir wurde immer gesagt: Du musst einfach nur aufmachen«, sagt sie. »Jetzt weiß ich, was Aufmachen heißt: Du musst dich brechen lassen. Den Gefallen habe ich Kai nicht getan.«

VIII Ausstieg

Im Frühjahr 2020 nimmt Kai K. ihr den Halt im Kloster: die Struktur. Jana sagt: »Zusätzlich zu den Drogen und den Prozessen hat er mich aus dem Orga-Job geworfen. Ich sollte mich nur um meine Kinder kümmern, und niemand durfte mir helfen. Ich habe es in der Essenszeit eigentlich nie geschafft, die beiden Kinder und mich selbst gut zu versorgen. Geschlafen habe ich maximal fünf Stunden in der Nacht.« Zu Tom, Freunden und Familie hat sie da seit Monaten nur noch wenig Kontakt. »Ich habe mich so einsam gefühlt«, sagt sie: »Wenn ich jetzt rausfliege, bin ich selber schuld und ein schlechter Mensch.«

Die Gruppe muss sie rausschmeißen, meint Kai K. Kurz vor ihrem Rausschmiss beauftragt Felix K. sie noch, 1000 Euro auf das Konto von Kai K. zu überweisen. Jana zahlt. Es fühlt sich an, als bräche der Boden unter ihr weg, sagt sie. Am Abend ruft sie Tom an. »Ich habe sofort gehört, etwas ist anders«, sagt Tom. Jana klingt schlecht. Trotzdem hat er auf diesen Moment gewartet. Er sichert ihr zu, sie abzuholen. »Dann habe ich einen Freund angerufen und nur geheult und geschrien vor Freude.« Noch in der Nacht organisiert er ein Auto aus Halle und fährt zum Kloster. Jana kann den Rauswurf da noch nicht fassen. »Ich war noch so in diesem Denken: Das Kloster ist der einzige Ort auf der Welt, und mit jedem Kilometer entferne ich mich davon. Das ist nur eine Pause, ich muss zurück.« 

Als Tom im Mai 2020 auf einer Parkbank in Halle zum ersten Mal dem SZMagazin seine Geschichte erzählt, ist Jana gerade mit den Kindern bei ihm zu Hause angekommen. Sie weiß nicht von dem Interview. Erst Monate später wird sie selbst per Zoom vielen weiteren Gesprächen zustimmen. Ihre leise Stimme wird immer bestimmter, ihr ängstlicher Tonfall immer wütender werden. Aussteigerinnen berichten, wie schwierig es war, sich von den Gedanken im Kloster zu befreien. Eine schreibt in ihr Tagebuch: »Tag 4 nach dem Ausstieg: Ich bin leise geworden in den letzten Tagen. Wahrscheinlich ist es der Schatten und das Opfer, welches jetzt hochkommt.« Sie ist nicht mehr zurückgekommen, nachdem die Leitung ihr einen Besuch bei der Familie hatte verbieten wollen. Zwei Frauen sagen, ihr Mutterinstinkt habe sie gerettet. »Ich war noch im Wochenbett, da kam Felix K. und wollte mir erzählen, wie faul ich

bin. Ich habe diese Sehnsucht gespürt, einfach meine Ruhe mit den Kindern zu haben«, sagt eine. Eine habe es nach einem Konflikt mal vor allen ausgesprochen: Sie fühle sich wie in einer Sekte. Am nächsten Morgen sei sie dann mit dem Kind auf die Straße gesetzt worden. Niemand habe ihr geholfen, die Kisten zu tragen.

»Nehmt keinen Kontakt zu denen auf«, habe es geheißen: »Das sind jetzt Aussätzige.« Ehemalige bekommen Anrufe, sie sollten nicht mit anderen Aussteigerinnen und Aussteigern sprechen. Viele ändern ihre Telefonnummer. »Kai hat mal gesagt: Wenn ihr mir irgendwie ans Bein kackt, zerstöre ich euer Leben«, sagt eine. Sie hat Angst, als ehemaliges Mitglied geoutet und in ihrem Job nicht mehr ernst genommen zu werden. Auf Google häufen sich Kommentare, die vor Go&Change warnen. Doch sie werden von einer Flut überschw.nglicher Lobpreisungen aus dem Algorithmus gespült. »Wenn eine negative Rezension auftauchte, wurden wir aufgefordert, etwas Positives zu schreiben«, sagt eine Frau. Als sich einige Aussteigerinnen mit den Vorwürfen sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch an die Lokalzeitung wenden, wird eine Mail an Ehemalige versendet. Betreff: »Unsere Stellungnahme zum Artikel in der Mainpost«. Die Empfänger dieser Mail werden darin aufgefordert, »bei der Redaktion der Mainpost anzurufen, oder eine E-Mail (gerne uns ins CC nehmen) zu schreiben und eure Version der Geschichte zu erzählen«. Angehängt sind die Kontaktdaten der Journalistinnen und Journalisten. Tatsächlich seien daraufhin Dutzende Beschwerdemails in der Redaktion eingetroffen, bestätigt eine Redakteurin der Mainpost.

Seit dem Beginn der Recherche vor zwei Jahren versucht auch die Reporterin des SZ-Magazins, Go&Change zu besuchen. Knapp zwanzig Mails schreibt Felix K. auf die Anfragen zurück, oft spät am Abend oder in der Nacht. Textwände aus Gegenfragen und Unterstellungen. Zuerst schlägt K. sogar vor, man solle das Kloster besichtigen. Dann soll vorab in einem Videotelefonat geklärt werden, ob die Journalistin wirklich vertrauenswürdig sei. Der Besuch wird abgesagt. Gleichzeitig wird der Reporterin vorgeworfen, nicht mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Klosters zu sprechen. Die Bitte, Gesprächspartner aus dem Kloster zu vermitteln, wird gleichzeitig abgelehnt. Nachdem dieser Mailverkehr ohne Absprache online veröffentlicht wird, sucht die Reporterin im Sommer dieses Jahres mit einem Kollegen aus der Redaktion des SZ-Magazins das Kloster auf.

K. öffnet die Eingangstür. Es ist ein sonniger Tag, die Cafés im Nachbarort sind voll, der Klostergarten menschenleer. K., in der Hand eine Tüte Snacks, mit vollem Mund lächelnd, blockt das Gespräch ab und schlägt die Tür zu. Nach einem erneuten Anruf sagt er dann doch einem Besuch zu, vorausgesetzt, er dürfe den Kollegen der Reporterin interviewen. An diese selbst habe er nach dem Mailverkehr keine Fragen mehr. Eine halbe Stunde später sagt er wieder ab. Trotz seiner Funktion als Aushängeschild kann Felix K. offenbar nicht autonom entscheiden. Den beiden Journalisten des SZ-Magazins spricht er telefonisch ein lebenslanges Hausverbot aus. Dieses gilt auch für den kleinen Hofladen ein Dorf weiter, wo die Gemeinschaft zwischen Rapunzel-Aufstrichen und fairem Kaffee Produkte aus dem Garten verkauft.

Im ersten Lockdown der Corona-Pandemie scheint Go&Change nach dem Reduzieren auf den »harten Kern« das Geld auszugehen. Im Mai 2020 erreicht viele Ehemalige eine Mail aus dem Kloster. Betreff: »Energieausgleich«. Darin steht, jeder habe zugestimmt, »dass Kai für seine Arbeit der letzten Jahre einen finanziellen Ausgleich in Form einer lebenslangen Rente erhält – jeder zahlt ihm 2 Jahre lang seinen Lebensunterhalt. Umgerechnet sind dies 80,-€ pro Person/Monat.« Unterzeichnet ist die Nachricht mit »Alles Liebe, Go&Change.« Die gemeinnützige Unternehmergesellschaft ist laut einer weiteren Mail der Gruppe »in einen Schlafmodus« versetzt worden.

Schenkungen gehen jetzt direkt auf das Privatkonto von Felix K. Ein Jahr später, es ist Frühsommer 2021. Wenn man nach dem Mythos Kai K. sucht, landet man im Norden Gelsenkirchens, im Stadtteil Horst. In der Gegend mit dunkelbraunen Klinker-häusern, durchsprengt von heruntergekommenen Eckkneipen und blinkenden Dönerbuden kennt man Kai K. von früher. »Ein Streber, immer vernünftig gewesen«, sagt ein alter Freund, der dem SZ-Magazin nach der Kontaktaufnahme in sozialen Netzwerken etliche Sprachnachrichten schickt. »Der war ein Ruhiger. Nicht wie sein Bruder.« Dieser, der Ältere, sei ein »Freak«, habe keine Schlägerei ausgelassen und oft Stress gesucht. Kai K. habe den Bruder höchstens mal verteidigt. Sonst habe der die Zeit vor seinem Computer verbracht. Die Mutter sei früh verstorben, das bestätigt auch eine Verwandte. Der Kontakt zum Vater und dessen neuer Frau sei irgendwann abgerissen.

Am Klingelschild eines Altbaus in einer kargen Straße von Horst klebt der Name K. Hier soll laut seinem vorigen Arbeitgeber bis vor Kurzem der Bruder von Kai K. gelebt haben. Doch von einem Tag auf den anderen sei er nicht mehr aufgetaucht. Der sei »in so eine Sekte gegangen«, sagt der frühere Chef, da unten im Süden, zu seinem Bruder. Andere berichten, der Bruder habe zwei Kinder in Gelsenkirchen zurückgelassen, die Beziehung zu seiner Partnerin sei vor einer Weile zerbrochen. Über Kai K. sagt ein ehemaliger Kindergartenfreund: »Der kann sehr manipulativ sein.« Beide Söhne seien zeitweise im Heim gewesen oder in der Jugendpsychiatrie. Kai K. sei zum Islam konvertiert. Ja, auch von der Bundeswehr habe er mal was gehört. Sonst nicht mehr viel. Das Wohnprojekt von Kai K. habe sich in Horst dann doch rumgesprochen, erzählt der andere Bekannte von früher per Sprachnachricht: »Hab gehört, der haut da auf die Kacke zurzeit.« Tom glaubt, dass Kai K. »aufgrund seiner Biografie keine andere Wahl hatte, als ein ultramanipulativer Typ zu werden«. Ohne jene, die an ihn glauben, wäre er aber längst nicht so erfolgreich, sagt auch Tom: »Es war von allen anerkannt: Er ist der Krasseste. Wir machen, was Kai sagt, weil er es am besten beurteilen kann.« »Kompetenzhierarchie« heißt dieses Prinzip im Kloster. Im Gegensatz zu allen anderen, deren Position täglich wechseln kann, steht neben Kai K. nur Felix K. immer an der Spitze dieser Hierarchie. K., ein untersetzter Mann mit dünnem Haar und Rauschebart, liefert, wenn man den Aussagen ehemaliger Klosterbewohner glaubt, die ideologische Basis, auf der Kai K. sein rätselhaftes Imperium aufbauen konnte. K. engagierte sich bei den »jungen Integralen« und warb den Großteil jener an, die später ins Kloster zogen. Nach außen spricht nur K. für Go&Change, Kai K. erreicht man nicht. Auch im Mailverkehr und in allen Telefonaten mit dem SZ-Magazin blieb stets K. der Ansprechpartner

Ein Jahr nach ihrem Ausstieg begleitet das Kloster Jana, 31, und Tom, 37 Jahre alt, weiter in ihrem Alltag. Im April 2021 sitzen sie in ihrer Küche in Halle. Jana kocht Kaffee, auf dem Balkon drücken sich die ersten Setzlinge aus Töpfen, die Oma passt auf die Kinder auf. Im Gespräch unterbrechen sie sich, wenn einer das Vokabular von Go&Change benutzt und »abschmiert«, wie sie sagen. »Wir hatten eine Basis, die uns gerettet hat«, sagt Jana. Tom ergänzt, »dass Ehe und Familie bei uns bedeutsamer sind, als wir uns das eingestanden haben. Und dass wir schon lange Zeit unser Leben teilen. Das konnte die Gemeinschaft nicht kaputtmachen.« Ihr Freundeskreis in Halle habe sie mit offenen Armen erwartet. »Es war ein Gefühl, etwas wieder freigelegt zu haben, was die ganze Zeit bedeckt war von irgendwelchen Kloster- Ideen. Es war erleichternd, einfach nur unseren Alltag zu leben«, sagt er. Die meisten Aussteigerinnen und Aussteiger, mit denen das SZ-Magazin gesprochen hat, haben sich in Therapie begeben. Ex-Mitglieder einer solchen »Psychogruppe mit hohem Konfliktpotenzial«, so der Weltanschauungsbeauftragte Jürgen Lohmayer, können sich an Anlaufstellen der beiden Kirchen wenden. Man leite sie bei Bedarf weiter an therapeutische Hilfsangebote.

Knapp 580 000 Menschen lebten laut einer Schätzung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen aus dem Jahr 2001 in Deutschland in einer religiösen, meist christlich geprägten Sekte. Seither wurden keine Zahlen veröffentlicht. Gruppen wie Go& Change werden nicht erfasst, obwohl sie mit abnehmender Bedeutung der Kirchen wichtiger werden. Spiritueller Missbrauch ist in Deutschland kein justiziabler Tatbestand. In den USA, wo in den Achtzigerjahren hippieske Eso-Gruppen zu Tausenden entstanden sind, sorgte ein Aussteiger von Scientology für einen Präzedenzfall: Lawrence Wollersheim erhielt 2002 eine Schadensersatzzahlung in Höhe von 8,67 Millionen US-Dollar, nachdem er 22 Jahre lang seine psychischen Folgeschäden hatte darlegen müssen. »Niemand googelt nach einer Sekte und tritt ihr dann bei«, sagt Jürgen Lohmayer, wobei er das Wort Sekte mit den Fingern in Anführungszeichen setzt. »Nach meiner Erfahrung befinden sich Menschen in einer wie auch immer gearteten Lebenskrise, die sie verunsichert. Auf der Suche nach einem Weg aus der Krise kann ein neues soziales Umfeld, eine Gemeinschaft als passend empfunden werden.« Ihm ist wichtig zu betonen, dass nicht jede sozialutopische Lebensgemeinschaft problematisch ist. Die Merkmale einer destruktiven Gruppe offenbarten sich erst mit der Zeit.

Lohmayer druckt dann in seinem Büro eine Checkliste mit rund 14 Kriterien aus. Die meisten Punkte treffen auf Go&Change zu: straffe Hierarchien, ein Guru-ähnlicher Führer mit Heilsversprechen, Abgrenzung zur Außenwelt, Schwarz-Weiß-Denken, ein allgemeingültiger Wahrheitsanspruch, das Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen und das Unterbinden von Kritik. Mit der Corona-Pandemie scheint die Nachfrage nach alternativen Lebensmodellen, wie Go&Change es verspricht, zu steigen. Im vergangenen Jahr ist die Gruppe trotz Rausschmisse nach Aussagen aus der Nachbarschaft wieder auf mindestens 30 Mitglieder gewachsen.

»Sich zu Hause zu fühlen und Menschen zu vertrauen – das löst schon viele Probleme«, sagt eine Aussteigerin: »Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, was da ein Stück weit aufgehoben wird«. Eine andere sagt, ihre Suizidgedanken seien nach der Zeit bei Go&Change nicht zurückgekehrt. Viele

sagen, durch die Erfahrungen im Kloster, besonders die negativen, hätten sie mehr zu sich gefunden. Entgegen der Anweisung vom Kloster finden sich Aussteigerinnen wieder zusammen, sie teilen ihre Erfahrungen im Frühjahr 2020 mit Jürgen Lohmayer. Nachdem erste Vorwürfe sexualisierter Gewalt in der Mainpost publik wurden, ermittelt die Kriminalpolizei in Schweinfurt ein Jahr lang gegen Go&Change. Im Februar 2021 kommt es zu einer Razzia im Kloster. Die Beamten finden Marihuana, das keinem Besitzer zugeordnet werden kann. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren mangels belastbarer Aussagen ein. »Psychoterror ist kein Tatbestand«, sagt eine Aussteigerin, die mit sich gerungen hat, aber dann nicht aussagen wollte. »Ich hatte zu große Angst, Kai noch mal vor Gericht begegnen zu müssen.« 

Ende November 2021, zurück in Gelsenkirchen-Horst. Der Name K. ist von dem Klingelschild verschwunden. Aber Kai K.s Bruder ist zurück in seiner Heimat, berichtet der alte Freund, mit dem das SZ-Magazin per Sprachnachrichten in Kontakt steht. Aussteigerinnen erzählen, Kai K. habe seinen Bruder aus dem Kloster geworfen. Kann man Kai K.s Bruder treffen? »Ich ruf den jetztan«, sagt der Bekannte. Kurz darauf meldet er sich: Für »einen Taui« würde der Bruder reden, andernfalls nicht. Dafür stimmt der Bekannte einem Treffen zu. Man steht dann zwischen Mülltonnen und tiefergelegten Autos, und abermals ruft er den Bruder an. Der will auch am Telefon nicht mit der Journalistin reden. Dafür seine neue Freundin. Sie sagt, der Bruder und sie hätten zuletzt sechs Monate im Kloster verbracht. Ausgezogen seien sie, weil der Bruder den Kontakt zu seinen Kindern in Gelsenkirchen halten wollte, es

sei sonst eine schöne Zeit gewesen. Manchmal brummt der Bruder aus dem Hintergrund, und die Freundin übersetzt: Ja, Kai K. sei einst zum Islam konvertiert. Nein, ein »Elitesoldat« sei er nicht gewesen, bloß Wehrdienstleistender. Wie er auf diesen Eso-Trip gekommen sei? Keine Ahnung. Von den» ganzen Vorwürfen«, die über Go&Change kursieren, wollen sie nichts wissen. Das seien alles unrasierte  »Veggies«, dass die Sex hätten, wolle sie sich gar nicht vorstellen. Dass Kai K. so eine Art Chef sei, findet die Frau logisch, er habe das Ding ja gegründet. Es gebe nun mal Regeln in so einer Gruppe; wer sich nicht daran halte, müsse gehen.

Aus Aussteiger-Kreisen ist zu hören, dass diesen Herbst eine weitere Rausschmiss-Welle durchs Kloster ging: Von den Bewohnern der ersten Tage, die eine neue Zukunft schaffen wollten, sind demnach nur drei Männer geblieben, Kai K., Felix K. und ein weiterer.

Das SZ-Magazin konfrontiert Felix K. und Kai K. Ende November 2021 mit den gegen die Gemeinschaft erhobenen Vorwürfen. Die Reaktion von »Go&Change«: Alle Fragen werden auf einer eigenen Webseite online gestellt, der Reporterin wird »unehrbarer Journalismus« vorgeworfen. Zu Anschuldigungen sexualisierter Gewalt schreibt Felix K., das seien »Projektionen«. »Unzählige wunderschöne Erfahrungen und positive Entwicklungen, nicht nur auf sexueller Ebene« habe es gegeben. Es handle sich um Lügen, die Menschen in die Welt setzen würden, die zuvor das Leben mit ihnen »gefeiert« hätten. K. verweist auf die eingestellten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Er widerspricht zudem den Schilderungen psychischer Manipulation, es gäbe zahlreiche Bewohner, die nie etwas gegen ihren Willen hätten tun müssen – außer diese zu verlassen. Teile der Gruppe hätten sich aber freiwillig »psycho-emotionalen Stresssituationen« ausgesetzt, woanders nenne man das

»Resilienztraining«. Für die im Kloster lebenden Eltern und Kinder existiere ein »sehr umfassendes, von Pädagogen und Psychologen ausgearbeitetes und geleitetes Kinderbetreuungsprogramm«, die »Schattenarbeit « finde nicht an Kindern statt. Zum Thema Drogenkonsum unter indirektem Zwang schreibt K.: »Das wäre ja nicht nur menschlich untragbar, sondern schlicht kriminell. Daher fordern wir jeden auf, der das bei uns erlebt haben soll, uns und sich selber anzuzeigen!« K. verwehrt sich dagegen, Menschen finanziell ausgenutzt zu haben. Das Einverständnis über gemeinsames Wirtschaften erfolge in vollem Bewusstsein.

Verträge gäbe es keine, alles basiere auf Vertrauen und für einen Neustart bekämen Aussteigerinnen und Aussteiger 800 bis 1000 Euro ausgezahlt. Nie sei jemand nach dem Ausstieg bedroht worden. Dem SZ-Magazin liegt jedoch der Screenshot einer solchen bedrohlichen Nachricht von Jana verdreht die Augen, als sie nach der Vision gefragt wird, für die Go&Change angetreten war: eine »liebevolle Gesellschaft«. Sie sagt: »Vielleicht gibt es auch Punkte im Leben, wo keine Versöhnung, keine Harmonie geht.« Am Tag ihres Ausstiegs habe ihr Kai K. einen Abschiedssatz mitgegeben, eine Tradition bei Go&Change: »Du hast dich aufgegeben.« Nein, sagt sie heute: Sie habe ihn aufgegeben. Und sich für sich selbst entschieden.

Foto: Screenshot SZ Magazin/ Friedrich Bungert