Die Schweiz spricht Recht über Gewalttaten in Gambia

Ousman Sonko war Teil eines brutalen Regimes, ab nächster Woche steht der ehemalige Innen­minister Gambias in Bellinzona vor Gericht – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was drei Opfer erzählen. Und was sein Verteidiger sagt.

Von Anina Ritscher, Jennifer Steiner und Lorenz Nägeli

erschienen am 5. Januar 2024, Republik

Binta Jamba sass in ihrem Wohnzimmer, als sich ihr Leben schlagartig änderte. Es war ein Januartag im Jahr 2000. Sie schaltete den Fernseher ein, Gambia TV. In den 18-Uhr-Nachrichten erfuhr sie: Ihr Ehemann, Soldat in der Staatsgarde, war tot. Almamo Manneh war von anderen Soldaten erschossen worden. «Ich werde nie wieder dieselbe sein wie vor diesem Tag», sagt sie heute. Und dieser Tag war erst der Anfang der Schrecken, die Jamba durchlebt hat.

Auch der Journalist Musa Saidykhan sagt: «Wer einmal Folter durchleben musste, ist danach ein anderer Mensch.» Im März 2006 nahm ihn die gambische Polizei fest, nachdem er über einen Putsch­versuch berichtet hatte, und brachte ihn ins Haupt­quartier des Geheim­dienstes. Doch Saidykhan weigerte sich, Informationen zu seinen Quellen preiszugeben – auch dann noch, als er bereits tagelang gefoltert worden war.

Nokoi Njie sei eine Kämpferin gewesen, erzählt ihre Tochter Isatou Ceesay. Während vieler Jahre war ihre Mutter Mitglied der wichtigsten Oppositions­partei Gambias. Als sie sich 2016 in der Nähe einer Demonstration gegen die Regierung aufhielt, wurde sie festgenommen. Im Gefängnis hätten ihr die Schergen des gambischen Langzeit­diktators Yahya Jammeh gedroht: Man werde sie erhängen und an die Krokodile verfüttern. Njie starb im September 2023. Bis zum Schluss hatte sie für Gerechtigkeit gekämpft. Ihre Tochter führt den Kampf weiter.

Drei traumatische Geschichten. Und ein Mann, der in jeder davon eine Hauptrolle spielt: Ousman Sonko, von 2006 bis 2016 Innen­minister Gambias in der Regierung Jammehs. Sonko soll für die Gewalt­taten an Binta Jamba, Musa Saidykhan und Nokoi Njie zumindest mitverantwortlich sein.

Ab dem kommenden Montag steht er in Bellinzona vor dem Bundes­strafgericht. Allein die Anzahl der angesetzten Verhandlungs­tage liefert einen Hinweis auf das Gewicht des Falls: 17 volle Prozess­tage sind im Januar für den Prozess veranschlagt, im März sind weitere 5 Reserve­daten blockiert.

Die Bundesanwaltschaft wirft Sonko zahlreiche Gewalt­verbrechen vor – und zwar derart schwere, dass sie nach Ansicht der Staats­anwälte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind. Diese können überall auf der Welt zur Anklage gebracht werden – unabhängig von der Nationalität von Täter und Opfer, unabhängig vom Tatort. Das sogenannte «Weltrechts­prinzip» macht dies möglich, weil diese Verbrechen so schwerwiegend sind, «dass sie eine Rechts­verletzung gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft darstellen», wie Völkerrechts­professorin Anna Petrig im Interview mit der Republik erklärt.

Die Schweiz hat die strafrechtliche Grundlage für die Verfolgung dieser Verbrechen im Jahr 2011 ins Straf­gesetzbuch geschrieben. Nach dem Prozess gegen den liberianischen Ex-Kommandanten Alieu Kosiah, der im Juni 2023 durch die Berufungs­kammer des Bundes­strafgerichts zu 20 Jahren Freiheits­strafe verurteilt wurde, ist das Sonko-Verfahren erst das zweite, das in der Schweiz wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt wird. Es ist zudem das erste Mal in Europa, dass ein so hoher Amtsträger sich aufgrund des Weltrechts­prinzips vor Gericht verantworten muss.

Das Bundes­strafgericht in Bellinzona wird daher nicht nur grundsätzliche Fragen zum Schweizer Umgang mit Verstössen gegen das Völker­recht klären müssen. Es wird auch einen Präzedenz­fall schaffen, der über die Landes­grenzen hinaus Wirkung haben wird. Insbesondere die Menschen, die Sonkos Gewalt und die des Regimes selbst erfahren mussten, werden aufmerksam verfolgen, wie die Schweiz diesen Fall verhandelt.

Inwieweit tragen hohe Politiker die Verantwortung für die Gewalt eines repressiven Regimes? Wann gelten Verbrechen als «systematischer Angriff gegen die Zivil­bevölkerung» und damit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Und darf ein Schweizer Gericht überhaupt über Verbrechen urteilen, die begangen wurden, bevor dieser Tatbestand ins Schweizer Strafgesetz aufgenommen wurde?

Diese Fragen werden im Zentrum der Verhandlung stehen.

Zehn Klägerinnen, 150 Seiten Anklage

Gambia, ein kleines Land mit rund zweieinhalb Millionen Einwohnerinnen an der westafrikanischen Küste, fast vollständig umschlossen von Senegal, stand von 1994 bis 2017 unter der Herrschaft von Yahya Jammeh. Dessen Regime soll systematisch gefoltert, ausser­gerichtlich getötet und zahlreiche Menschen zum Verschwinden gebracht haben. Ousman Sonko wurde in diesem Regime zur zentralen Figur. Er stieg bis zum Innen­minister auf, soll die rechte Hand des Diktators gewesen sein.

Seit 2017 regiert mit Adama Barrow ein neuer Präsident, sowohl Jammeh als auch Sonko flohen aus dem Land. Sonko kam in die Schweiz, wo er ein Asyl­gesuch einreichte. 2017 wurde er in einer Berner Asyl­unterkunft festgenommen und in Untersuchungs­haft gesetzt. Sonko hatte Dutzende Male Beschwerde gegen die lange Haft und die Haft­bedingungen eingereicht, bisher jedoch ohne Erfolg. Im vergangenen April schliesslich klagte ihn die Bundes­anwaltschaft nach jahrelangen Unter­suchungen an.

Zentrales Element der Anklage gegen Sonko bilden die Aussagen von zehn Privat­klägerinnen. Binta Jamba, Musa Saidykhan und Nokoi Njie sind drei von ihnen. Die Republik hat mit der Witwe Jamba, dem Journalisten Saidykhan und der Tochter der verstorbenen Njie gesprochen. Die folgenden Schilderungen stützen sich auf diese Gespräche – und auf die 150 Seiten lange Anklage­schrift gegen Ousman Sonko.

Der Beschuldigte weist sämtliche Vorwürfe zurück. Für ihn gilt die Unschulds­vermutung.

Die Betroffenen setzen grosse Hoffnung in die Schweizer Justiz. Darauf, dass das Urteil des Bundes­strafgerichts ihr Leid anerkennt und ihnen ermöglicht, mit der Vergangenheit abzuschliessen.

Kann der Prozess in Bellinzona Gerechtigkeit herstellen?

Verwitwet und vergewaltigt

Wenn Binta Jamba über die Ereignisse dieses Tages im Januar 2000 spricht, zittert ihre Stimme vor Wut. Den Namen Ousman Sonko vermeidet sie, als die Republik Anfang Dezember per Videocall mit ihr spricht. Mittlerweile lebt sie in den USA, sie schaltet sich aus ihrem Auto zu. Statt von Sonko redet sie von der «Person» – das Aussprechen seines Namens ist zu schmerzhaft.

Wenige Stunden bevor sie vom Mord an ihrem Ehemann Almamo Manneh erfahren habe, sei Ousman Sonko, damals Hauptmann der Staatsgarde, bei ihr aufgetaucht, begleitet von mehreren Soldaten. Sie hätten Geld und Wert­gegenstände der Familie konfisziert. Bis heute habe sie davon nichts zurück­bekommen. Als ihr Ehemann an diesem Tag schliesslich nicht vom Dienst in der Staats­garde nach Hause gekommen sei, habe ein Arbeits­kollege ihres Mannes beim Privatsitz des Präsidenten angerufen und sich über Mannehs Verbleib erkundigt. Der Präsident persönlich habe ausrichten lassen: «Schalten Sie um 18 Uhr den Fernseher ein, dann wissen Sie, was passiert ist.»

Laut Anklage­schrift hatten Sonko und die von ihm angeführten Soldaten ihren Kollegen Almamo Manneh in der Nacht zuvor in einen Hinterhalt gelockt. Dort hatten sie das Feuer auf ihn eröffnet.

In einem ausführlichen Statement, das er zum Ende der Anhörungen der Bundes­anwaltschaft vorlegte, schreibt Sonko: Manneh habe einen Putsch gegen den Präsidenten Jammeh geplant und sich bei seiner Verhaftung gewehrt. Die Schüsse, die die Männer abgefeuert hätten, seien Notwehr gewesen. In einer Anhörung vor einem gambischen Unter­suchungs­ausschuss sagte ein ehemaliger Weggefährte jedoch: Er halte es für wahrscheinlicher, dass Sonko seinen eigenen Vorgesetzten und dessen engen Vertrauten Manneh aus dem Weg räumen wollte, um nach der Macht zu greifen.

Nach dem Mord soll Ousman Sonko Binta Jamba aus ihrem Haus vertrieben haben, das auf dem Gelände einer Militär­basis stand. Sie zog mit ihren Kindern zu ihrer Mutter. Wenige Tage später sei Ousman Sonko dort aufgetaucht. An diesem Tag habe er sie zum ersten Mal vergewaltigt. Und dann immer wieder. Erst später habe sie erfahren, dass Sonko einer der Männer gewesen sei, die die tödlichen Schüsse auf ihren Ehemann abgefeuert hatten.

Zwei Jahre lang habe er ihr regelmässig aufgelauert, sie gezwungen, ihn in Hotels zu treffen, oder er habe seinen Fahrer geschickt, um sie zu ihm zu bringen. Bei unzähligen dieser Treffen habe er ihr sexualisierte Gewalt angetan. Zweimal wurde Jamba schwanger, beide Male habe Sonko sie gezwungen, abzutreiben. «Ich versuche zu vergessen, aber diese Erinnerungen werden für den Rest meines Lebens in meinem Gedächtnis bleiben», sagt sie heute.

Erst im Juni 2003 konnte Jamba ein Visum für die Vereinigten Staaten erlangen und fliehen – ohne ihre Kinder. Im Januar 2005 kehrte sie nach Gambia zurück, um ihre Kinder zu besuchen. Laut Anklage­schrift liess Sonko Jamba kurz nach ihrer Rückkehr entführen und einsperren. Während fünf Tagen habe er sie abermals schwer gefoltert. Er habe sie viele Male vergewaltigt, bevor ihr die Flucht gelang.

Der Vorwurf gegen Ousman Sonko in Bezug auf Binta Jamba lautet: «Mehrfache Vergewaltigung, schwere Körper­verletzung, Nötigung und qualifizierte Freiheits­beraubung», angeklagt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sonko streitet dies ab und wirft Jamba vor, zu lügen. Als Alibi reichte er Dokumente ein, die beweisen sollen, dass er in der entsprechenden Zeit für Weiter­bildungen im Ausland geweilt habe. Jambas Anwältin Annina Mullis zufolge sind die Beweise allerdings lückenhaft.

Wann ist Gewalt systematisch?

Sonko streitet nicht nur diese, sondern sämtliche Vorwürfe ab, die gegen ihn erhoben werden. Seiner Ansicht nach erfüllen die Verbrechen, die ihm angelastet werden, den Straftat­bestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht. Voraus­setzung dafür ist, dass diese nicht isoliert, sondern im Rahmen eines «ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivil­bevölkerung und in Kenntnis des Angriffs» begangen werden. Nicht nur die Taten an sich, sondern auch ihr Kontext ist entscheidend.

Dieser Kontext sei bei den Vorwürfen gegen Sonko nicht gegeben, sagt dessen Verteidiger, der Genfer Anwalt Philippe Currat, im Gespräch mit der Republik: «Ein Angriff gegen die Zivil­bevölkerung besteht nicht nur aus der Addition einzelner Verbrechen. Diese müssen zudem inhaltlich miteinander verbunden sein, um einen systematischen Angriff zu belegen.» In der Anklage­schrift gegen Sonko sei eine solche Systematik der Taten nicht erkennbar.

Es ist das erste von drei zentralen Argumenten, mit denen Sonko und dessen Verteidiger einen Freispruch erwirken wollen.

Der Tod von Jambas Ehemann im Jahr 2000 markierte den Beginn von Sonkos Aufstieg innerhalb des gambischen Macht­apparats. In den Jahren danach stieg er erst im Militär auf, wurde dann zum General­inspektor der Polizei und schliesslich im November 2006 von Yahya Jammeh zum Innen­minister ernannt.

Zu diesem Zeitpunkt regierte Jammeh bereits seit über 10 Jahren. Um gegen Dissidenten vorzugehen, hatte er eine para­militärische Einheit aufgebaut, die «Junglers». Diese Todes­schwadron, die echte und vermeintliche Regime­gegner folterte und ausser­gerichtliche Morde ausführte, unterstand direkt dem Präsidenten.

Die Gräueltaten des gambischen Regimes werden nicht nur in der Schweiz verhandelt. Ein ausländisches Urteil ist bereits gefällt: Am 30. November 2023 verurteilte ein deutsches Gericht einen ehemaligen «Jungler» zu einer lebenslangen Freiheits­strafe. Das Gericht sprach den Mann wegen dreier Morde und eines versuchten Mordes «in Tateinheit mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Tötung» schuldig.

«Dieses Urteil ist entscheidend für den Prozess gegen Sonko», sagt Vony Rambolamanana von der Nichtregierungs­organisation Trial International. Diese hatte im Januar 2017 Strafanzeige gegen Sonko eingereicht. «Mit dem Urteil hat das deutsche Gericht bestätigt, dass die Morde der ‹Junglers› nicht isoliert waren, sondern im Kontext von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschahen», sagt Rambolamanana.

Was hat Sonko gewusst? Was hat er befohlen?

In zahlreichen Fällen wirft die Bundes­anwaltschaft Sonko Mittäterschaft vor. Er habe die Taten in einem Täter­kollektiv begangen, bestehend aus Präsident Jammeh, Mitgliedern des Geheim­dienstes NIA (heute SIS), der Polizei, den Gefängnis­diensten und den «Junglers», heisst es in der Anklage­schrift.

Welche Verantwortung trägt Sonko?

Diese Frage stellt sich etwa im Fall von Musa Saidykhan, der im Jahr 2006, als Sonko General­inspektor der Polizei war, tagelang gefoltert wurde. Saidykhan arbeitete seit den 1990er-Jahren als Journalist in Gambia. «Schon als Jugendlicher sah ich, dass viele Menschen in meinem Land keine Stimme haben», sagt er in einem Gespräch per Videocall. Aus der Perspektive dieser Menschen habe er schreiben wollen. Auch Saidykhan schaltet sich von den USA aus ins Gespräch ein – kurz bevor er seine Schicht antritt. Er arbeitet heute im Pflege­bereich, daneben leitet er ein gambisches Exilmedium.

Seine Familie riet ihm vom Journalismus ab. «Aus offensichtlichen Gründen», wie er heute sagt. Trotzdem fing Saidykhan 1997 als Reporter beim «Daily Observer» an, der ersten Tages­zeitung Gambias. Später wurde er Chef­redaktor der Zeitung «Independent». «Speaking truth to power» sei immer seine Motivation gewesen, sagt er – der Macht des Regimes mit Wahrheit zu begegnen. Der Preis, den er dafür zahlte, war hoch.

2005 reiste Saidykhan als Mitglied der Journalisten­gewerkschaft nach Südafrika. Er traf den damaligen südafrikanischen Präsidenten zu einem Gespräch und bat ihn, etwas gegen die eskalierende Gewalt gegen Medien­schaffende in Gambia zu tun.

Nach seiner Rückkehr wurde Saidykhan festgenommen und als angeblicher «Landes­verräter» verhört. Er wurde zwar rasch wieder freigelassen, stand ab diesem Zeitpunkt aber unter permanenter Überwachung. «Ich musste mich oft aus dem Büro schleichen und ein Taxi nach Hause nehmen, als Sicherheits­massnahme und um unbeobachtet zu bleiben», erzählt er. Kurz zuvor war ein prominenter Journalist vom Regime ermordet worden.

Dann kam der 21. März 2006. Im zwölften Jahr von Jammehs Herrschaft gab es einen neuerlichen Putschversuch. Um den drohenden Staats­streich aufzuklären, richtete die Regierung einen Untersuchungs­ausschuss ein. Dieser soll Personen, die Jammeh des Mitwirkens an den Plänen für einen Aufstand verdächtigte, gefoltert, verhört und zu Geständnissen gezwungen haben. Laut der Anklage­schrift war Sonko Teil eines Gremiums, das diese Verhöre veranlasste.

Die Redaktion des «Independent» erfuhr damals, dass ein hoher Minister verhaftet worden sei, und veröffentlichte einen Artikel dazu. Nur einen Tag nach der Publikation klopften Polizisten und Soldaten an Saidykhans Haustür. Sie brachten ihn ins Haupt­quartier des Geheim­dienstes NIA. Dort sei er während mehr als zwei Wochen in einer engen Zelle festgehalten worden – von Vertretern des Geheim­diensts, der «Junglers» und der Polizei, der Sonko vorstand.

Während mehrerer Tage hätten die «Junglers» Saidykhan jeweils morgens in den Hof des Haupt­quartiers geführt, wo sie ihm «grosses physisches und psychisches Leid» zugefügt hätten, steht in der Anklage­schrift. Sie sollen ihn verprügelt und mit Elektro­schocks gequält und danach verhört haben. Nach drei Wochen Haft und vielen Stunden Folter wurde er freigelassen.

Gemäss der Anklageschrift ergibt sich die Mittäterschaft Sonkos unter anderem daraus, dass ihm unterstellte Polizisten an der Befragung von Saidykhan beteiligt gewesen seien und so von der Folter erfahren haben müssten. Zudem sei Sonko im Gefängnis persönlich anwesend gewesen, habe sich direkt an Saidykhan gerichtet und ihm mitgeteilt, dass alles, was geschehe, «der Wille Gottes» sei. Er sei daher durch «massgebliches, arbeits­teiliges Zusammen­wirken bei der Tatausführung beteiligt» gewesen.

Sonko streitet all dies ab. In seinem Statement zuhanden der Bundes­anwaltschaft schreibt er, die ihm unterstellten Polizei­einheiten hätten «nie an den Handlungen teilgenommen», die ihnen vorgeworfen werden. Er hätte «so etwas niemals zugelassen». Im Gegenteil: Er habe «alle angemessenen Massnahmen ergriffen», um derartige Handlungen zu verhindern. Der Befehl zur Folter Saidykhans sei weder von ihm gekommen noch sei er von seinen Unter­gebenen ausgeführt worden.

Es ist das zweite der drei zentralen Argumente seiner Verteidigung: Ihm würden Dinge vorgeworfen, für die er keine Verantwortung trage.

Die Privatklägerinnen dagegen beschreiben ihn als wichtigen Akteur im System von Gewalt und Folter. Und auch Vony Rambolamanana von Trial International sagt: «Aus unserer Sicht ist klar: Sonko war ein enger Vertrauter Yahya Jammehs und deshalb mutmasslich mitverantwortlich für die Gewalt­taten des Regimes.»

Wenige Monate nachdem Saidykhan verhaftet wurde, ernannte der Präsident Sonko zum Innen­minister.

«Bringt sie zum Ort»

Zehn Jahre später, am 14. April 2016, versammelten sich in Serekunda, der grössten Stadt Gambias, um die Mittagszeit mehrere Dutzend Menschen an der zentralen Kreuzung Westfield Junction zu einer politischen Kundgebung. Neuwahlen standen kurz bevor, Jammehs Herrschaft begann zu wackeln, die Menschen­menge protestierte für eine Wahlreform.

Die friedliche Kundgebung war nicht bewilligt, die Polizei löste sie auf und nahm rund 50 Personen fest. Laut Anklage­schrift befahl Innen­minister Sonko den Polizisten, 5 Personen, die er als Rädels­führerinnen identifizierte, zum Haupt­quartier des Geheim­dienstes zu bringen.

Eine von ihnen war Nokoi Njie. Sie war zu diesem Zeitpunkt eine der Vorsitzenden der wichtigsten Oppositions­partei im Parlament, der United Democratic Party (UDP). Njie wurde gemeinsam mit ihrem Partei­kollegen Solo Sandeng verhaftet.

Im Hauptquartier des Geheim­dienstes wurden sie gemäss der Anklage­schrift gefoltert und daraufhin verhört. Die «Junglers» schlugen sie mit Peitschen aus Autoreifen, kippten eiskaltes Wasser über ihre Körper, fügten ihnen Elektro­schocks zu. In der Anhörung der Bundes­anwaltschaft wird Njie später zu Protokoll geben: «In diesem Raum war überall Blut, es stank nach Blut. Sie schlugen mich und schlugen meinen Kopf gegen die Wand.»

Solo Sandeng überlebte diese Qualen nicht. Nokoi Njie musste zusehen, wie ihr Verbündeter zu Tode gefoltert wurde. Njie wurde hospitalisiert. Später brachte man sie ins berüchtigte Zentral­gefängnis «Mile 2» nahe der gambischen Hauptstadt Banjul.

Das «Mile 2» zieht sich wie ein roter Faden durch die Anklage­schrift. Fast alle Klägerinnen waren einmal dort eingesperrt, viele von ihnen erlebten Folter. «Das Essen im Gefängnis war so schlecht, dass nicht einmal die Katzen auf dem Gelände es essen wollten», erzählte Njie später in einer Anhörung. Unter das Couscous sei jeweils Sand gemischt worden, bevor es den Inhaftierten serviert worden sei.

«Ich kann mich genau an den Tag der Verhaftung meiner Mutter erinnern», sagt Njies Tocher, Isatou Ceesay, als die Republik im Dezember mit ihr spricht. Ceesay lebt mit ihren vier Kindern noch heute in Gambia. Die 40-Jährige schaltet sich aus ihrem Wohn­zimmer in Mandinari zu. Während Wochen habe die Familie damals nicht gewusst, wo Njie sei, erzählt sie. Nachdem sie es von einem Partei­mitglied erfahren habe, habe sie ihre Mutter jeden Tag im Gefängnis besucht. «Hinter meiner Mutter standen immer sechs oder sieben maskierte Soldaten», erinnert sich Ceesay.

Ein Satz blieb Njie auch Jahre nach ihrer Inhaftierung im Gedächtnis: «Take them to the place» – «Bringt sie zum Ort». Sonko habe diese Worte gesagt, kurz bevor sie und vier andere Personen in die Folter­kammer des Geheim­dienstes gebracht worden seien. So erzählte Njie es später ihrer Tochter.

Es ist eine der Aussagen, die nahelegen, welche Verantwortung Sonko als Mittäter im arbeits­teiligen System der Gewalt hatte: Er gab mutmasslich Befehle und Anweisungen, die in Gewalt und Folter mündeten.

Aber lässt sich das beweisen?

Die stockende Aufarbeitung

Im Dezember 2016 war die Herrschaft Jammehs zu Ende, nachdem überraschend sein politischer Widersacher Adama Barrow zum neuen Präsidenten gewählt worden war. Jammeh gab erst auf, als das senegalesische Militär im Land einmarschierte. Er flüchtete ins Exil nach Äquatorial­guinea, wo er bis heute lebt.

Die neue Regierung unter Barrow steht seither vor der Aufgabe, die Wunden zu heilen, die Jammehs Regime nach 22 Jahren autoritärer Herrschaft hinterlassen hat. Als Teil dieser Aufarbeitung richtete sie die «Truth, Reconciliation and Reparations Commission», kurz TRRC, ein – die Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wieder­gutmachung. Diese befragte zwei Jahre lang mutmassliche Opfer und Täter des Regimes. Auch Jamba, Saidykhan und Njie sagten aus.

Im Dezember 2021 veröffentlichte die Kommission ihren Abschlussbericht. Er beschreibt in 16 Kapiteln die Unter­drückung der gambischen Zivil­bevölkerung. Über die «Junglers» steht etwa: «Sie versteckten die Leichen der Getöteten an verschiedenen Orten, darunter auch auf Yahya Jammehs Farmen.» Human Rights Watch sprach 2015 von Folter und Ermordungen, von «weitverbreiteten Menschen­rechts­verletzungen» und einem «allgegenwärtigen Klima der Angst».

Philippe Currat, Sonkos Verteidiger, stellt sich dagegen auf den Standpunkt: «Die Anklage­schrift liefert keine Beweise, dass in Gambia ein systematischer Angriff gegen die Zivil­bevölkerung vorlag.» Sonko schreibt in seinem Statement: «Ich bestreite entschieden, dass es zwischen 1994 und 2016 oder gar 2017 eine solche Politik des Staates gegen die Zivil­bevölkerung in Gambia gegeben hat.» Er fügt an: «Alles in meiner Laufbahn (…) zeigt, wie wichtig mir die Achtung der Menschen­rechte und die Verbesserung der Situation in meinem Land waren.» Ausgerechnet die Schweizer Asylpolitik könnte Sonko in Bezug auf dieses Argument in die Hände spielen. Das Staats­sekretariat für Migration (SEM) arbeitet seit 2008 mit den gambischen Migrations­behörden zusammen. Bis 2016 unterstanden diese Ousman Sonko.

Das SEM stellte den gambischen Beamten Material und Ausbildung zur Verfügung, organisierte aber auch Abschiebungen von abgewiesenen Asyl­suchenden nach Gambia. Auf Anfrage begründet das SEM diese folgender­massen: «Gemäss Einschätzung des SEM herrschte in Gambia keine allgemeine Situation von Gewalt, aufgrund derer die Zivil­bevölkerung als konkret gefährdet bezeichnet werden musste.» Das Bundes­verwaltungs­gericht hat diese Ansicht mehrfach bestätigt.

Vony Rambolamanana von Trial International, die selbst lange als Anwältin im Asylrecht gearbeitet hat, sagt: «Viele Asyl­gesuche werden abgelehnt, selbst wenn in einem Land Diktaturen herrschen und gegen Teile der Bevölkerung Gewalt ausgeübt wird.» Die Behörden konzentrierten sich beim Asyl­entscheid auf individuelle Geschichten «und bewerten weniger den grösseren Kontext». Auf die Entscheide des SEM könne sich das Bundes­strafgericht in diesem Fall daher nicht berufen.

Sonkos Verteidiger argumentiert allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch formal: Verbrechen, die Sonko vor 2011 begangen haben soll, könnten gar nicht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit verfolgt werden; weil die Schweiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit erst 2011 ins Straf­gesetz übernahm und Gerichte Entscheide nicht rückwirkend fällen dürften.

Es ist das dritte zentrale Argument für einen Freispruch Sonkos, das der Verteidiger ins Feld führt.

Die Bundesanwaltschaft sieht das anders und hat auch die mutmasslichen Verbrechen der Jahre 2000 bis 2011 in die Anklage­schrift aufgenommen. Das Gericht wird auch in dieser Frage einen Grundsatz­entscheid fällen müssen.

«… sonst kann ich nie zur Ruhe kommen»

Die gambische Wahrheits­kommission TRRC hat in ihrem Bericht auch Empfehlungen an die aktuelle Regierung unter Adama Barrow gerichtet. Sie fordert etwa Gesetzes­reformen oder eine neue Verfassung. Und die straf­rechtliche Verfolgung aller, die an der Gewalt unter dem Jammeh-Regime beteiligt waren.

Doch viele Überlebende des Regimes sind vom bisherigen Prozess enttäuscht. «Meine Mutter hätte, nachdem sie gefoltert wurde, gesund­heitliche Betreuung gebraucht. Die hat sie nie bekommen», sagt etwa Isatou Ceesay. Letztlich sei sie wohl an den Spätfolgen der Folter gestorben. Ceesay sagt gar: «Die aktuelle Regierung ist noch schlimmer als die unter Jammeh.» Ähnlich äussern sich auch andere Menschen aus Gambia: Weil Barrow in einer Koalition mit Jammehs Partei regiere, stocke die Aufarbeitung.

Immerhin hat die aktuelle Regierung zwei Gesetze erlassen, die als Grundlage dienen sollen, damit die Empfehlungen der Wahrheits­kommission umgesetzt werden können. So will sie unter anderem ein hybrides Gericht unter gemeinsamer Leitung der Westafrikanischen Wirtschafts­gemeinschaft (Ecowas) und Gambias einrichten, um die Strafverfolgung gegen die Gewalt­täter des Jammeh-Regimes aufzunehmen. Zudem hat sie Reparations­zahlungen für die Überlebenden versprochen.

Aber werden diese je ausgezahlt werden? Im Jahr 2010 hat ein Gericht der Ecowas dem Journalisten Saidykhan 200’000 Dollar Genugtuung zugesprochen. Das Geld hat der heute 49-Jährige nie bekommen. Jetzt sei der politische Wille in der Regierung zwar da, sagt er. Doch sie arbeite zu langsam. Bis heute hat er Schmerzen von der Folter.

«Nach meiner Aussage vor der TRRC hatte ich auf offiziellem Wege nie wieder etwas von der Kommission oder von der Regierung gehört», sagt auch Binta Jamba. Aufgrund der körperlichen und psychischen Belastung, der sie ausgesetzt war, ist sie heute arbeits­unfähig. «Mir wurde alles genommen», sagt sie.

Sie ist eine von wenigen Frauen aus Gambia, die öffentlich über ihre Vergewaltigung sprechen. «Viele Frauen sind zu mir gekommen und haben mir von ihren eigenen Erfahrungen erzählt», sagt sie. Aber keine wolle öffentlich darüber sprechen. Das Thema sei tabuisiert.

Auch in der Schweiz rang die Justiz mit Binta Jambas Fall. Die Bundes­anwaltschaft wollte die Gewalt gegen Jamba erst nicht in die Anklage aufnehmen. Vermutlich, weil sie den Fall nicht im Kontext der Verbrechen gegen die Menschlichkeit einordnete. Eine genaue Begründung dafür lieferte sie nicht.

Jamba und ihre Anwältin Annina Mullis wehrten sich, argumentierten, sexualisierte Gewalt sei in Gambia systematisch und als Mittel politischer Repression eingesetzt worden. Damit müssten innerhalb des vorliegenden Kontexts auch diese Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden. Die Bundes­anwaltschaft folgte schliesslich dieser Argumentation.

Ein Urteil aus der Schweiz könnte helfen, dass ihr Schmerz auch in Gambia anerkannt werde, hofft Jamba. «Wenn ich keine Gerechtigkeit erfahre, kann ich nie zur Ruhe kommen.» Den Körper ihres Mannes hat Jamba nie begraben können.

Foto: Daniel Stolle