Wo man die Stille hören kann
von Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber
Das Projekt wurde u.a. im Zuge der Aussllung „Fragmente des Krieges“ im Willy-Brandt Haus in Berlin, als Finalist beim VGH Fotopreis 2022 in der GAF Eisfabrik in Hannover, bei der Ausstellung „Identity – Courage – Love“ in Perpignan und bei der Ausstellung „in between states“ im Rahmen des Journalismusfest Innsbruck 2024 präsentiert.
Einen Monat nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat sich im Alltag der Menschen, die im Westen des Landes leben, eine neue Normalität breitgemacht, man möchte eigentlich sagen sie hat sich eingeschlichen, denn selbst wenn die Sirenen des Luftalarms ertönen, bleibt es still. Es ist eine Stille, die von der Fassungslosigkeit Besitz ergriffen hat. Es ist Krieg, aber die Front, an der täglich Zivilist:innen und Soldat:innen getötet werden, befindet sich einige hundert Kilometer entfernt.
Die Stille ist zu hören in Bahnhofshallen, in denen täglich tausende Geflüchtete aus den umkämpften Gebieten ankommen. Sie breitet sich aus in bis auf die letzten Zimmer ausgebuchten Hotels und drängt sich in Theater, in denen Freiwillige Spenden sortieren. Sie legt sich über Autoschlangen vor Checkpoints des Militärs und schreitet durch Klassenzimmer, die nun als Notunterkünfte herhalten müssen.
In einem Shelter für die LGBTIQ+ Gemeinschaft in Czernowitz hat Sofia ihren Partner Sasha, der trans ist, überzeugt sich nicht bei der Armee zu melden, um zu kämpfen. In einer ehemaligen Schönheitsklinik verzerren Kämpfer des umstrittenen Asow Bataillons vor Schmerz ihre Gesichter. Sie werden von Ärzten behandelt, die im Skiurlaub vom Krieg überrascht wurden und nicht mehr in ihre Heimatstädte zurückkehren konnten. In dem kleinen Dorf Duliby trauert Natalia um ihre zwei gefallenen Brüder. Der Jüngere wurde von einer Mine in Mariupol zerfetzt und der ältere 10 Tage später von einer Rakete in Jarowiw getötet. Junge Männer und Frauen, die aussehen wie Student:innen, robben bei einem der vielen Trainings für die Territorialverteidigung über den staubigen Boden und sagen Sätze wie: „Ich habe keine Angst vor dem Kampf, ich habe Angst davor mein Land zu verlieren.“
In gesammelten Fragmenten und persönlichen Geschichten werden verschiedene Perspektiven aus den ersten Wochen des Krieges sichtbar.
Für ihre Arbeit „Wo man die Stille hören kann“ sammelten Helena Lea Manhartsberger und Laila Sieber einen Monat lang Eindrücke und Geschichten aus einer Region im Ausnahmezustand. Mittels Videonachrichten begleiten sie bis heute drei Protagonist:innen in ihrem neuen Alltag:
Vania floh aus Kyjiw in sein Heimatdorf Smodna in den Karpaten. Wir trafen ihn bei seiner Zwischenstation am Bahnhof in Iwano-Frankiwsk. Inzwischen verbringt er wieder die meiste Zeit in Kyjiw. In Videobotschaften erzählt er seine persönlichen Gedanken.
Marija floh aus Charkiw nach Czernowitz. Dort trafen wir sie in einer Notunterkunft für LGBTIQ+ Personen. Ihre Wohnung in Charkiw wurde komplett zerstört. Sie setzte ihre Reise nach Kanada fort und dokumentierte sie für uns.
Seva war 16 als er mit seiner Familie von Charkiw nach Bakosch in Transkarpatien, nahe der ungarischen Grenze floh. Dort trafen wir ihn in einer Notunterkunft. Mittlerweile lebt er in Norwegen. Er hat seine Reise für uns dokumentiert.