Der Folterknecht
von Paul Hildebrandt und Lucia Heisterkamp
erschienen am 1. November 2024 im SPIEGEL
In einer niederländischen Provinzhauptstadt steht Walid Negash vor Gericht, einer der berüchtigtsten Menschenhändler der Welt. Er soll in Libyen Tausende Flüchtlinge gefoltert haben.
Der Mann, den die Polizei in den Saal des Strafgerichts der niederländischen Stadt Zwolle führt, sieht unscheinbar aus. Sein Bart ist zerzaust, er trägt einen dunklen Trainingsanzug, der Blick geht ins Leere. Er stammt aus Eritrea, dem Land in Ostafrika, aus dem seit Jahren Zehntausende Menschen fliehen. Auch ihn könnte man auf den ersten Blick für einen Geflüchteten halten, dem die beschwerliche Route durch die Wüste und übers Mittelmeer ins Gesicht geschrieben steht. Doch Walid Amanuel Gebreyesus Negash ist kein Flüchtling. Er soll über Jahre Menschen entführt und in Libyen gefoltert haben. Er soll Frauen vergewaltigt, Männer mit Eisenketten geprügelt und ihre Haut mit heißer Flüssigkeit übergossen haben. Walid, wie er von seinen Opfern genannt wird, 41 Jahre alt, gilt als einer der berüchtigtsten Menschenhändler der Welt.
Geschäftsmodell: Erpressung
Mit starrer Miene sitzt der Eritreer da, während die Staatsanwältin vorträgt, was ihm vorgeworfen wird: Über ein Netzwerk an Mittelsmännern in Europa soll Walid Millionen Dollar Lösegeld eingetrieben haben. Sein Geschäftsmodell: Er bot Landsleuten aus Eritrea seine Dienste als Schlepper an und ließ sie auf der Fahrt durch Libyen in Lagerhallen mitten in der Wüste sperren. Dort wurden sie misshandelt, bei eingeschaltetem Telefon, damit ihre Angehörigen im Ausland die Schreie hören und Lösegeld bezahlen.
Das Geschäft mit der Erpressung floriert im Bürgerkriegsland Libyen seit mindestens zehn Jahren. Männer wie Walid, die mit libyschen Milizen zusammenarbeiten und sich ein grenzübergreifendes Netzwerk aufgebaut haben, können dort straffrei Flüchtlinge foltern und ermorden. Die Familien der Opfer leben in Afrika, den USA oder Europa. Auch in Deutschland haben Hunderte Menschen solche Horroranrufe erhalten. Gefasst wurden höchstens einige Handlanger, die selbst nach Europa geflohen sind.
Doch an diesem Vormittag im Januar 2023 sitzt zum ersten Mal ein einflussreicher Menschenhändler in einem europäischen Gericht, der für seine Verbrechen in Libyen zur Verantwortung gezogen wird. Seither hat der SPIEGEL rund ein halbes Dutzend Termine vor Gericht verfolgt. Das Verfahren gegen ihn läuft bis heute, ein Urteil wird frühstens nächstes Jahr erwartet. Aber schon jetzt liefert der Prozess tiefe Einblicke in ein Netzwerk aus Schleppern, Folterknechten, Milizen und Mittelsmännern, das von Eritrea über Libyen bis nach Deutschland reicht. Er wirft ein Licht auf das schmutzige Geschäft mit eritreischen Flüchtlingen, das jedes Jahr Millionen Dollar an Lösegeld von Familienangehörigen in die Taschen der Menschenhändler fließen lässt. Und er wirft die Frage auf: Warum stoppt niemand die Täter?
Etwa sieben Jahre bevor der Menschenhändler Walid in den Gerichtssaal geführt wird, flieht eine junge Frau aus ihrer Heimat Eritrea. Selam Tesfa heißt eigentlich anders, sie will ihren echten Namen nicht veröffentlicht sehen, aus Angst vor Konsequenzen. Sie ist damals 19 Jahre alt. Heute lebt sie am Rand von Groningen, wo sie dem SPIEGEL im Juni dieses Jahres ihre Geschichte erzählt. Tesfa ist eine zierliche Frau mit dichtem schwarzen Haar.
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