Auch im Ramadan fallen die Bomben

von Laila Sieber und Anna-Theresa Bachmann

erschienen am 03. April 2024 bei DIE ZEIT

Die Bewohner eines Hauses in Rafah im Süden des Gazastreifens erzählen, wie sie mitten im Krieg den heiligen Fastenmonat der Muslime erleben.

Heute habe er das erste Mal seit fünf Monaten wieder Hühnchen gegessen, erzählt Sohyb Abuelaish am Telefon. Dazu habe es Reis gegeben. "Verglichen mit vielen anderen Menschen hier im Gazastreifen, geht es uns deutlich besser", sagt der 28-jährige Palästinenser fast entschuldigend. Plötzlich rauscht es dumpf in der Leitung. "Haben Sie die Bombe gehört?", fragt Abuelaish.

Wenn im Gazastreifen Bomben fallen, gibt es keine Sirenen, die davor warnen, und keine Schutzräume, in denen die Menschen sich verstecken könnten. "Wir bleiben im Haus", sagt Abuelaish, "und hoffen, dass es uns nicht trifft."

Das Haus, in dem er während der israelischen Luftangriffe ausharrt, liegt im Zentrum der Stadt Rafah, im Süden des Gazastreifens, etwa zehn Gehminuten von der Grenze zu Ägypten entfernt. In einer Dreizimmerwohnung im ersten Stock hat Abuelaish vor einigen Wochen Unterschlupf gefunden, als er aus dem Norden nach Rafah flüchtete. Die Hausherrin heißt Esraa Nofal, sie wohnt hier mit ihrem Mann und ihren vier Kindern. Die Familie hat den jungen Mann aufgenommen – und mit ihm acht Mitglieder einer weiteren Familie. Sie teilen nun alles miteinander: den engen Raum, die Miete, das Essen. Und die Angst, dass neben den Luftangriffen bald auch die Bodenoffensive in Rafah starten könnte, von der sich Israels Regierung bislang trotz aller diplomatischen Bemühungen nicht abbringen lässt. 

Die ZEIT konnte die kleine Schicksalsgemeinschaft in Rafah per WhatsApp erreichen und eine Woche lang immer wieder mit Sohyb Abuelaish und den beiden Müttern, Esraa Nofal und Oum al-Abed, sprechen. Mehrere Versuche waren nötig; die meisten Menschen in Gaza sind in diesen Kriegszeiten nur schwer zu erreichen.

Und so geben diese Gespräche einen seltenen Einblick in das Leben der rund 1,5 Millionen Palästinenser, die in Rafah in überfüllten Wohnungen und in Zelten untergekommen sind. Abuelaish, Nofal und al-Abed haben von ihrem Alltag erzählt und von ihrer ständigen Todesangst. In diesen Tagen begehen sie, wie Muslime weltweit, den Fastenmonat Ramadan – aber welche Bedeutung hat die Fastenzeit, wenn man seit Monaten kaum genug zu essen findet?

Esraa Nofal, die Hausherrin, ist eine 33-jährige Frau mit rundem Gesicht. Sie erzählt zunächst etwas schüchtern, wie die Wohngemeinschaft in ihrer Wohnung zustande gekommen ist. Vor dem Angriff der Hamas auf Israel und Israels verheerender militärischer Antwort in Gaza habe sie hier mit ihrem Mann, einem Falafelverkäufer, und den gemeinsamen Kindern gewohnt. Das älteste sei zwölf Jahre, das jüngste ein Jahr alt. Es sei ein einfaches Leben gewesen, sagt Nofal, sie habe sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert. Während des Ramadan habe sie früher gerne gebastelt, bunte Laternen aus Moosgummi etwa. Nach dem Gespräch schickt sie, durchaus stolz, Fotos von ihren Bastelarbeiten. 

Im vergangenen Dezember, erzählt Nofal weiter, seien plötzlich Fremde vor ihrer Haustür erschienen: die aus dem Norden geflüchtete Oum al-Abed mit ihrem Mann, acht ihrer neun Kinder und dazu Sohyb Abuelaish, ein Freund ihres ältesten Sohnes. Sie habe die Geflüchteten nicht abgewiesen, sagt Nofal, denn sie seien in Not gewesen. Eigentlich hätten Oum al-Abed und ihre Familie bei einem Verwandten im zweiten Stock des Hauses unterkommen wollen – aber dessen Wohnung sei schon mit anderen Schutzsuchenden belegt gewesen. "Wenn wir uns nicht gegenseitig helfen", sagt sie, "wer soll es sonst tun?"

Das Gespräch findet, wie üblich, am Abend statt. Tagsüber erreicht man die Bewohner des Hauses meist nicht. Das Netz in Gaza ist zu schlecht, oft fällt es stundenlang aus. Abends nach dem Iftar, dem Fastenbrechen, ist es einfacher, mit Abuelaish, Nofal und al-Abed zu sprechen. Ihre täglichen Aufgaben wie Wasserkanister schleppen oder eine halbwegs nahrhafte Mahlzeit beschaffen liegen dann hinter ihnen, und sie können sich mit dem batteriebetriebenen WLAN verbinden, das ihr Nachbar jeweils für ein paar Stunden einschaltet. Einmal gelingt sogar ein kurzer Video-Call. In der Wohnung ist es düster. Das sei immer so am Abend, erklären die Bewohner, denn Strom gebe es nicht mehr. 

Die Fotos und Videos, mit denen sie ihren Alltag dokumentieren, können sie nur in geringer Auflösung versenden. Doch es findet sich ein freier palästinensischer Fotograf, der sie besuchen kann, um das gemeinsame Fastenbrechen im rosa-weiß gekachelten Wohnzimmer festzuhalten. Damit die Fotos gelingen, leuchten die Bewohner mit ihren Handys, die sie tagsüber an Sammelstationen aufgeladen haben.

Oft fragten die Kleinen nun, wann auch sie "in Stücke gerissen" würden

Die Wohnung hat ein Bad und eine Küche, dort bereiten die beiden Frauen seit Beginn des Ramadan die Mahlzeiten für den Abend zu. Im Wohnzimmer sitzen sie alle oft bis tief in die Nacht zusammen – bis die Väter und die älteren Söhne sich dort zum Schlafen hinlegen. Die Frauen und die jüngeren Kinder teilen sich jeweils eines der beiden Schlafzimmer. Abuelaish hat im Flur sein Lager aufgeschlagen, auf einer Holzpalette mit geblümter Matratze. So etwas wie Privatsphäre gibt es kaum noch, aber sie haben sich damit arrangiert. Sie haben andere Sorgen. 

Vor einigen Wochen hätten sie noch über offenem Feuer gekocht, erzählt Nofal, weil kein Gas für den Herd aufzutreiben gewesen sei. Vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) hätten sie ein wenig Mehl bekommen. In letzter Zeit gebe es wieder mehr Produkte auf dem Markt zu kaufen. Auf den Fotos der Bewohner sind kleine Pizzen und Salat auf einer blauen Tischdecke auf dem Boden drapiert. Die Preise allerdings, sagt sie, seien extrem hoch: Hatte ein Kilo Kartoffeln vor dem Krieg drei Schekel, also weniger als einen Euro gekostet, seien es heute über fünf Euro. Milchpulver koste statt knapp vier nun über zwölf Euro, eine Packung Windeln sogar 75 Euro statt drei bis vier. Meist gebe es Suppe und Salat zu essen – oder was auch immer auf dem Markt zu finden und gerade halbwegs erschwinglich sei. 

Zum alltäglichen Überlebenskampf komme die ständige Furcht vor den Bomben, die schon seit Beginn des Krieges auch auf Rafah fallen, sagt Nofal. Ihre Kinder würden sich bei jeder Explosion aneinander festkrallen. Aus Sorge lasse sie die Kinder kaum noch aus dem Haus. Vor einigen Wochen sei das Haus ihres Onkels getroffen worden, erzählt Nofal, einige der dabei getöteten Kinder seien mit ihren eigenen in den Kindergarten gegangen. Oft fragten die Kleinen nun, wann auch sie "in Stücke gerissen" würden. Nofal versucht, ihre Kinder zu beruhigen, so gut es eben geht. Und auf Gott zu vertrauen.

Doch die Angst begleitet auch die Erwachsenen. Selbst übers Telefon ist sie spürbar. Während eines Gesprächs mit der anderen Mutter, der 53-jährigen Oum al-Abed, ist neben dem Geplapper der kleineren Kinder das surrende Geräusch von Drohnen zu hören. Das gehe schon den ganzen Tag so, sagt al-Abed. Sie lässt sich scheinbar nicht irritieren, spricht mit fester Stimme. Bis plötzlich eine Explosion zu hören ist. Ganz nah. "Oh, oh, Bombardierung", sagt al-Abed. Für einen Moment zittert ihre Stimme: "Ich muss kurz Luft holen." Sie atmet. Dann will sie weitersprechen – doch die Verbindung bricht ab. 34 lange Minuten vergehen, bis eine Textnachricht ankommt: Entwarnung, nur das Netz sei wieder einmal kollabiert. 

Am nächsten Abend kann Oum al-Abed weitererzählen. Vor dem Krieg habe sie in einem Haus in Dschabalija gelebt, sagt sie, im Norden des Gazastreifens, und von dort aus für die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah gearbeitet. Doch als das israelische Militär im Norden vorrückte, sei sie mit ihrer Familie geflohen. Wochenlang hätten sie sich von einem Ort zum nächsten durchgeschlagen, bis sie in Nofals Wohnung Zuflucht fanden.

Es falle ihr schwer, sagt al-Abed, sich an den Ramadan zu Friedenszeiten zu erinnern: an die geschmückten Straßen in Dschabalija und an ihren Esstisch, auf dem sie zum Zuckerfest duftendes Gebäck für ihre Gäste servierte. Kahk, die kleinen runden Butterkekse. Und Maamoul aus Grießteig, mit Datteln oder Nüssen gefüllt. Nun habe sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Süßes auch nur denke, sagt al-Abed: "Wegen all der Verwandten und Freunde, die wir verloren haben." 

Einer ihrer Söhne lebt in Sicherheit, jenseits der Grenze in Ägypten. Ein zweiter, der 16-jährige Jassir, konnte kürzlich dorthin ausreisen, aus einem traurigen Grund: Bei ihm sei Schilddrüsenkrebs diagnostiziert worden, erzählt al-Abed, schon vor dem Krieg habe er sich einer Strahlentherapie unterziehen müssen. In Ägypten werde er medizinisch versorgt. Eine seiner Schwestern habe ihn begleiten dürfen.

Hohe Mauern, Stacheldraht und Kameras versperren den meisten Menschen in Gaza den Weg nach Ägypten. Wer den Grenzübergang in Rafah passieren will, braucht einen ausländischen Pass, die Unterstützung ausländischer Regierungen oder das seltene Glück im Unglück, wegen einer schweren Krankheit oder Verletzung von einer Hilfsorganisation evakuiert zu werden. Oder auch: viel Geld. 

Denn es gibt ein korruptes System, auf das sich in diesen Tagen Tausende Palästinenser in der Not einlassen. Dieser Weg führt über die sogenannte Reiseagentur Hala, die gegen Geld Namen auf die Ausreiselisten am Grenzübergang Rafah setzen lässt. Wer außer der ägyptischen Agentur noch davon profitiert, bleibt undurchsichtig. Hala verlangt für die Ausreise eines Erwachsenen zwischen 5.000 und 8.000 Dollar. Bezahlt wird in bar, im Büro der Agentur in Kairo, durch nahe Verwandte. Eine Garantie, tatsächlich auf eine der Listen zu kommen, gibt es nicht.

Die einzige Möglichkeit, wieder zu arbeiten, sieht er in Ägypten

Sohyb Abuelaish erzählt in einem der Gespräche, dass auch er auf diese Weise Gaza verlassen wolle. Vor dem Krieg habe er mit einem Bruder und mit seiner Mutter in Dschabalija gelebt. Er habe im Marketingbereich gearbeitet, online Software verkauft. Etwa 500 Dollar im Monat habe er so verdient. Aber ohne stabiles Internet und eine sichere Umgebung sei das unmöglich: "Jetzt muss ich selbst nach Geld fragen." Die einzige Möglichkeit, wieder zu arbeiten, sieht er in Ägypten: "Ich will mir dort etwas aufbauen, damit ich meine Familie unterstützen kann." 

Auch Abuelaish hatte schon eine längere Odyssee hinter sich, als er sich der Familie Oum al-Abeds anschloss. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder sei er mehrmals geflohen, sagt er. Während der kurzen Feuerpause Ende November beschlossen sie, dass er sich alleine in den Süden durchschlagen solle, um sich ein Bild der Lage zu machen; die anderen sollten nachkommen. Aber dann endete die Feuerpause, die Flucht gen Süden wurde zu gefährlich, und die Mutter und der Bruder saßen im zerstörten Norden fest. "Es ist das erste Mal, dass wir an Ramadan nicht zusammen sind", sagt Abuelaish. "Eigentlich kann ich es nicht Ramadan nennen. Es ist der schlimmste Monat, den ich je erlebt habe." Die Sorge um seine Familie, die ständige Ungewissheit, das alles belaste ihn.

Trotzdem betont er bei jedem Gespräch, dass seine Situation im Vergleich mit den Tausenden Menschen in Rafah, die in Zelten hausen müssten, sehr viel besser sei. Und erst recht im Vergleich zu den Menschen im Norden, wo die Lastwagen mit Hilfsgütern kaum hinkommen und wo laut internationalen Organisationen fast 70 Prozent der etwa 300.000 verbliebenen Menschen unter "katastrophalem Hunger" leiden. Sein Bruder habe sich schon mehrmals in Lebensgefahr begeben, um Nahrung zu beschaffen, erzählt Abuelaish, häufig ohne Erfolg.

Über WhatsApp schickt er ein Foto eines lächelnden jungen Mannes im Polohemd, im Hintergrund der Sonnenuntergang am Strand. Das sei der Mann seiner Cousine, sagt Abuelaish: "Er wurde erschossen, als er versuchte, für seine Kinder Mehl zu besorgen." Das nächste Foto zeigt den Kopf desselben, nun in ein Leichentuch gewickelten Mannes, seine Augen sind geschlossen, der Mund halb geöffnet.

Abuelaish versucht jeden Tag, seinen Bruder zu erreichen. Aber nicht immer gelingt es. Meist tauschten sie nur eine Textnachricht aus: "Wir sind okay." Wenn sie telefonieren können, fragt Abuelaish jedes Mal, was der Bruder zu essen habe: "Er sagt dann: Wir fasten." Schwarzer Humor in unerträglichen Zeiten. Wenn Abuelaish nachfragt, erfährt er, dass seine Familie kaum Nahrung findet. Dass sie hungert. Und er fühle sich schlecht, sagt er, weil er einige Kilometer weiter südlich zumindest ab und zu satt werden könne.

Abuelaish versucht, sich mit alltäglichen Aufgaben abzulenken. Auf diese Weise könne er auch etwas zum Zusammenleben mit seiner "neuen Familie" beitragen, sagt er. Er schickt ein Video, das zeigt, wie er und andere Menschen Wasserkanister aus frei liegenden Leitungen abfüllen. Das Trinkwasser müsse woanders gekauft werden, sagt er, für einen Euro bekämen sie derzeit 20 Liter.

Oum al-Abed sagt, sie wolle den Gazastreifen nicht verlassen. Trotz Jahrzehnten der Besatzung sei dies ihre Heimat. "Wir haben genug vom Krieg, genug von der Zerstörung", sagt sie. Palästinenserinnen und Palästinenser sollten endlich einen eigenen Staat bekommen.

Auch Esraa Nofal sieht ihre Zukunft in Gaza. Sie habe die Hoffnung nicht aufgegeben, sagt sie, dass ihre Kinder hier eines Tages ein besseres Leben haben würden als sie selbst. 

Mitarbeit: Sabry Abouamiry
Fotos: Hani Abu Rezeq