Ukrainer in Deutschland: „Das gibt Ihnen nicht das Recht, mich so zu behandeln“
Von Olivia Samnick
erschienen am 11. April 2024, der Freitag
Sie sind hochgebildet und arbeitswillig: Viele Ukrainer*innen haben inzwischen einen Job. Aber unter welchen Bedingungen? Für Yulian Sheremeta war es ein böses Erwachen.
Den Rücken durchgedrückt, die Hände flirrend in der Luft – bereit, das nächste Wort zu ergreifen: Yulian Sheremeta spricht auf einer geblümten Couch wie ein Mann, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Ein Vater von fünf Kindern. Einer, der sich durchsetzen kann. Am deutschen Arbeitsmarkt scheint sich der Ukrainer die Zähne auszubeißen.
Er verstehe schon viel, sagt Sheremeta in diesem Februar 2024. Fast exakt zwei Jahre lebt er nun in Deutschland. Ob er die Sprache meint oder aber wie die Deutschen ticken – das lässt der Ukrainer offen: „Ein Teil meines Herzens ist hier angekommen.“ Zum Ankommen, findet er, da gehöre ein Job dazu.
Sheremeta trägt das Haar kurz. Dazu ein hellblaues Polohemd im Bund der Jeans. Er legt den Kopf schräg, wenn man fragt, wie es ihm bisher bei der Arbeit ergangen sei: „Wie soll es mir schon gehen … bescheiden.“ Das andere Wort mit „b“ wolle er lieber nicht in den Mund nehmen. Hinter ihm hat jemand ein Kruzifix an die Wand genagelt.
In der Ukraine hat Yulian Sheremeta, 43 Jahre alt, einen Magister in Philosophie und Theologie, hier verlegte er Böden. „Wenn man die Sprache noch nicht kann, dann muss man eben mit dem Körper arbeiten“, sagt er. Jede Arbeit könne eine gute sein, wenn man denn gut behandelt wird.
Über ebay Kleinanzeigen fand Sheremeta im vergangenen Herbst einen Job in einem Handwerksbetrieb. Gut lief es dort nicht für ihn. Sein Arbeitgeber habe sich nicht an Vereinbarungen gehalten, ihn nicht ausreichend bezahlt. Zur Kündigung sei er durch den Chef gedrängt worden.
Unbezahltes Praktikum?
Laut seinen Berechnungen fehlen Yulian Sheremeta noch knapp über 1.000 Euro Lohn. Das sei aber nicht der Punkt: „Es ist nicht das Geld, es geht darum, dass der Chef mich belogen und hintergangen hat.“ Im Oktober 2023 fing er nach einem Bewerbungsgespräch gleich am Folgetag an zu arbeiten. Der Chef wirkte freundlich. Auf Google Reviews wird er für seine Art gelobt. Angestellte nannte er oft „seine Jungs“. Der Ukrainer sei einer von mehreren Migranten gewesen. Er sei jemand, der den Leuten vertraut.
Die ersten Probleme kamen, als er nach der Bezahlung fragte. Der Chef habe behauptet, die ersten Tage seien ein unbezahltes Betriebspraktikum. Sheremeta sagt, davon sei nie die Rede gewesen. Einen schriftlichen Vertrag darüber gab es nicht, nur eine Bestätigung über ein Betriebspraktikum – ausgestellt und unterzeichnet allerdings nur vom Chef, nicht von Sheremeta selbst. Er überlegte hinzuschmeißen. Entschied sich doch zu bleiben. Er wollte arbeiten.
Es folgte ein unbefristeter Arbeitsvertrag. Schriftlich diesmal. Der Ukrainer war zufrieden. 3.000 Euro brutto, von sieben bis 16 Uhr an fünf, manchmal auch sechs Tagen. Die Pausenzeiten wurden nicht per Stechuhr notiert – wie auch? Oft genug habe es die vorgeschriebenen Pausen bei den Aufträgen nicht gegeben. An manchen Tagen, an denen es kaum Aufträge gegeben habe, schickte der Chef ihn früher heim, so der Ukrainer. An anderen Tagen habe er länger gearbeitet. Das sei Teil der Unternehmenskultur gewesen.
Es ist ruhig im Hause Sheremeta. Die Kinder – zwischen drei und dreizehn Jahren alt – sind in der Kita und der Schule. Die Gattin Mariya bereitet Tee zu und grüßt: „Herzlich willkommen!“ Sie hat, wie ihr Mann, einen Sprachkurs besucht. Die B1-Prüfung steht an. Der Abschluss eines gelungenen Integrationskurses, wie ihn Deutschland für die gut 1,14 Millionen neu angekommenen Ukrainer*innen vorsieht. Kaum ein Land hat so viele Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Ein Großteil hält einen Aufenthaltstitel nach Paragraf 24 im Aufenthaltsgesetz, das bedeutet: Ohne Asylantrag, unbürokratisch und zügig sollte so die Aufnahme der Ukrainer*innen ablaufen, inklusive Sozialhilfe, frei wählbarem Wohnsitz und Hilfe der Bundesagentur für Arbeit.
Vor zwei Jahren führte die Flucht den Ukrainer mit dem Auto über Polen nach Deutschland bis in eine Großstadt in Nordrhein-Westfalen. Zuvor lebte die Familie in Cherkasy, einer Kleinstadt in der Zentralukraine. Er sagt: „Wir fühlen uns wohl hier.“ Die katholische Kirche hat ihn mit seiner Frau und den fünf Kindern in einer Wohnung im Pfarrhaus aufgenommen. Als Großfamilie. „Wo sonst gibt es so was noch?“ Sheremeta ist dankbar.
Statistisch gesehen wollen vier von fünf Ukrainer*innen gerne arbeiten. Etwa 21 Prozent haben es laut der Bundesagentur für Arbeit bis Ende 2023 geschafft, einen Job zu finden: 113.000 haben eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland gefunden und 36.000 einen Minijob. Arbeit ist jedoch nicht gleich Arbeit: Viele sind hoch qualifiziert, haben studiert. Die Anerkennung der Abschlüsse ist langwierig. Wer gleich arbeiten will, probiert es anders: im Niedriglohnsektor. So wie Yulian Sheremeta.
Die Gefahr, ausgebeutet zu werden, ist hier besonders hoch. Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD machte das Risiko schon im März 2022 zum Thema, die Ukrainer dürften „nicht Opfer von Abzocke oder Ausbeutung“ werden. Eine Fachtagung im Februar 2024 ergab: Die Inspektionen und Kontrollen des Zolls sind personell zu schwach aufgestellt, es fehlt an digitaler Infrastruktur und Zusammenarbeit der einzelnen Fachstellen, um Arbeitsschutzkontrollen effektiv durchzuführen. Im Durchschnitt finden diese nur alle 25 Jahre in einem Betrieb statt.
Der Freitag hat mit mehreren Beratungsstellen und ukrainischen Beschäftigten gesprochen, die Missstände und Ausnutzung schildern, von Gastronomie über Hotellerie bis zur Baubranche. Doch die meisten Ukrainer*innen sind nur zu Hintergrundgesprächen bereit. Die Sorge vor Konsequenzen durch Arbeitgeber ist groß. Die Parallelen zu Arbeitsmigrant*innen, vor allem aus anderen Ex-Sowjetländern, sind offensichtlich: die Sprachhürde, Bürokratie, ein Leben in der Fremde und der Druck, sich arrangieren zu müssen – selbst mit Missständen. Die Vorfälle aus der Fleischindustrie, speziell im Fall Tönnies, oder in der Spargel- und Erdbeerernte sind vielen präsent.
Bei Sheremetas Arbeit kamen ihm einzelne Vorfälle langsam wie Schikane vor: Etwa, als er bat, wegen eines Arzttermins früher gehen zu dürfen. Der Chef habe sich gesperrt und auf der exakten Vertragsarbeitszeit beharrt. Ein anderes Mal kam die Aufforderung zur Wochenendarbeit per Whatsapp, keine 16 Stunden vor geplantem Arbeitsbeginn. „Ich habe Kinder, wie soll ich das so kurzfristig organisieren?“, sagt Sheremeta. Vor Weihnachten sei eben viel los, schrieb der Chef auf Whatsapp. Also ging der Ukrainer und arbeitete.
Das Nachsehen hatte immer wieder Sheremeta, so findet er. Währenddessen profitierte der Chef weiter: Er erhielt einen Eingliederungszuschuss für die Beschäftigung Sheremetas und zahlte so weniger als die Hälfte des Lohnes aus eigener Tasche. Der Ukrainer: eine günstige Arbeitskraft.
Sheremeta reicht es kurz vor Weihnachten 2023. Er schrieb alles in einer E-Mail an den Chef mit dem Google Übersetzer auf – und drückt auf „Senden“:
Sehr geehrter Herr XXX,
ich schreibe Ihnen im Zusammenhang mit der Tatsache, dass es in unserer Zusammenarbeit mit Ihnen einige Missverständnisse gibt. Nach meinem Verständnis ist menschliche Arbeit nicht nur einfaches Geldverdienen, sondern sie hilft einem Menschen, für die Gesellschaft nützlich zu sein (…). Ich verstehe, dass Sie der Chef sind und ich Sie respektiere, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, mich so zu behandeln. (…) Bitte respektieren Sie auch mich und meine Zeit und halten Sie sich strikt an unseren Vertrag mit Ihnen.
Der Folgetag sollte sein letzter Arbeitstag sein. Nach einer Diskussion mit dem Chef sieht er sich zur Kündigung gedrängt, so stellt Sheremeta es dar. Der Freitag schickt an den Chef des Handwerksbetriebs Fragen zum Beschäftigungsverhältnis mit seinem Ex-Mitarbeiter und zu den Vorwürfen Sheremetas. Der Chef schreibt, die Fragestellung lasse Rückschlüsse über eine „inkorrekte Faktenlage“ zu – konkreter äußern möchte er sich jedoch nicht.
„In meinen Brei will ich mir nicht spucken lassen“, sagt Sheremeta. Ein ukrainisches Sprichwort, das so viel heißt wie: Ich will mir die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Den Satz auf Deutsch wolle er sich merken. Sheremeta lernt schnell – und holt sich Hilfe.
Am Rande der Legalität
Unweit des Mainzer Doms in einem Fachwerkhaus aus dem Jahr 1456 befindet sich die Beratungsstelle des IQ Service Faire Integration. Sergey Sabelnikov sitzt an einem weißen Tisch. Er berät migrantische Beschäftigte zu ihren Rechten in Deutschland. Als einer von wenigen spricht er auch Russisch. Hier sammeln sich die Fälle von Ukrainer*innen, die von Arbeitsausbeutung und Missständen im Job berichten: 220 Ratsuchende stammten 2023 aus der Ukraine. Ein Drittel aller Anfragen am Standort Mainz. Was Sheremeta dem Freitag gegenüber schildert, hat er auch dem IQ Service Faire Integration gegenüber vorgebracht.
„Ich erinnere mich an diesen Fall“, sagt Sergey Sabelnikov, auf Yulian Sheremeta angesprochen. „Es ging um nicht bezahlten Lohn, Urlaubsansprüche und eine Kündigung.“ Schmale, randlose Brille und rostroter Pullover. „Ein typischer Fall“, ergänzt Sabelnikov. Bundesweit tauchen in der Statistik von Faire Integration immer wieder dieselben Themen und Konflikte bei ukrainischen Ratsuchenden auf. Der Berater ist sich sicher: Das hat System.
Sabelnikov beugt sich über einige Papiere, die auch dem Freitag vorliegen: Sheremetas Arbeitsvertrag, die E-Mails an den Chef und dessen Antworten, Lohnauszüge. Bei Letzteren bleibt er hängen. Die Arbeitstage für Dezember sind nicht ausgewiesen. Das mache es schwerer, die Beträge einzuordnen: Für wie viel Arbeit wurde der Lohn genau gezahlt? Sheremeta vermisst über 1.000 Euro, der Chef sieht das anders.
Schwer zu klären. Wie so viele Fälle, die bei Sergey Sabelnikov landen. Manchmal begleitet er Arbeitnehmer bis vor das Arbeitsgericht. Oft bleibt es bei Erstgesprächen. Sich zu wehren, ist mühselig, mit Zeit und Geld verbunden. Und es brauche Mut. Meist leiden die Ratsuchenden bereits viele Monate oder haben den Job längst verlassen, wenn sie sich zur Beratung melden.
Das deutsche Arbeitsrecht schützt alle, unabhängig von der Nationalität. Es hapere aber bei der Durchsetzung, so Sebastian Klähn, Rechtsschutzberater beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Er kämpft für Arbeitnehmerschutz speziell von Osteuropäer*innen, in der Grenzregion Polen, Tschechien und Deutschland: „Oft genug bewegen wir uns in Bereichen, wo nicht direkt Gesetze gebrochen werden.“ Etwa bei der Arbeitszeit: In der Hotellerie würde behauptet, die Bezahlung erfolge nach gereinigtem Zimmer statt nach Arbeitszeit – unzumutbare Überstunden würden zur Norm. „Einzelpersonen oder Firmen können riesige Gewinne erzielen, wenn sie Menschen weit unter dem Standard beschäftigen“, so Klähn. Während viele stillschweigend aus den Jobs ausscheiden, verfestigen sich einzelne Kavaliersdelikte zu einem strukturellen Problem. Die Missstände müssen Arbeitnehmer erst mal beweisen können.
„Er hat sich wohl zu Recht beschwert“, so schätzt Sabelnikov den Fall ein. Sheremeta selbst bleibt optimistisch: „Es gibt überall Schurken. Ich will nicht von einem auf alle Arbeitgeber schließen.“ Und wer weiß: Vielleicht sei er mal sein eigener Boss.
Diese Recherche wurde unterstützt durch das Otto Brenner Recherchestipendium und die International Women’s Media Foundation. Der Beitrag erschien als ein Teil des deutsch-, litauisch-, tschechischen Crossborder-Projekts www.war-and-labor.com
Illustrationen © der Freitag