Zypern - eine Insel als Drehkreuz des Nahostkonflikts

von Anna-Theresa Bachmann und Patrick Slesiona

erschienen am 25. November 2023 auf ZEIT Online

Auf Zypern suchen viele Israelis nach dem 7. Oktober Abstand von Terror und Krieg, die jüdische Gemeinde wächst. Doch ganz werden sie die Angst auch dort nicht los.
Es sind die Sträucher, die Olivenbäume und der weite Blick über die Hügel vor ihrem Fenster, die Edit Ben Ami in diesen Tagen zumindest etwas Zerstreuung schenken. Schon einmal hat die 45-jährige Israelin in diesem Bungalow gelebt, ihren Kindern auf der Terrasse beim Spielen zugeschaut – zehn Jahre blieb die Familie damals auf Zypern. Sie kamen her, weil die IT-Firma ihres Mannes ihm einen Job auf der Insel anbot; ein gutes, sicheres Leben sei das gewesen, nicht einmal eine Flugstunde von Tel Aviv entfernt. Doch irgendwann sei der Wunsch stärker geworden, ihre drei Kinder in Israel aufwachsen zu sehen. Jetzt, nach drei Jahren, ist Ben Ami mit ihrer Familie nach Zypern zurückgekehrt. "Um zu heilen", sagt sie.

Schon lange ist die Mittelmeerinsel nicht nur ein beliebtes Reiseziel für Israelis, einige Tausend haben sich hier dauerhaft niedergelassen, Restaurants eröffnet oder in den Bauboom investiert. Die gestiegenen Preise und das politische Klima in Israelhatten diesen Trend zuletzt noch verstärkt. Jetzt ist es das Hamas-Massaker vom 7. Oktober, das Zypern für viele zu einem Zufluchtsort gemacht hat. Hier suchen sie Abstand vom Krieg, der doch ganz nah bleibt.

So geht es auch Edit Ben Ami, die ihren richtigen Namen hier nicht lesen möchte. Jener Samstagmorgen, als sie den Alarm auf dem Handy erst einmal ignorierte, lässt sie nicht mehr los. "Normalerweise bringt uns ein Raketenangriff nicht aus der Fassung", sagt sie. Ben Ami ist drei Kilometer entfernt vom Gazastreifen aufgewachsen, im Kibbuz Nir Oz. Noch immer sagt sie "meine Leute", wenn sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern spricht – gemeinsam in einem Kibbuz groß zu werden, das verbinde fürs Leben. Nach ihrer Rückkehr aus Zypern war die Familie ganz in die Nähe gezogen, in ein Dorf, wo auch Ben Amis Eltern mittlerweile lebten.

Rund jeder vierte Bewohner von Nir Oz wurde am 7. Oktober von Hamas-Terroristen getötet oder verschleppt, während Ben Ami mit ihren Kindern und den Eltern nur ein paar Kilometer entfernt stundenlang im Schutzraum ausharrte. Der freiwillige Sicherheitsverband des Ortes, dem auch ihr Mann angehöre, habe die Angreifer abwehren können. Sie selbst habe ein Messer mitgenommen, für den Notfall. Die Kinder hätten so früh am Morgen noch ihre Schlafanzüge getragen, der Jüngste noch die Plüschrobbe unter den Arm geklemmt, die er jede Nacht mit ins Bett nehme.

Auch das weiße Kuscheltier mit den Knopfaugen hat es nach Zypern geschafft. Es gebe dem Siebenjährigen ein Gefühl von Sicherheit, sagt Ben Ami. Als ihre Tochter nach der Umquartierung der Familie bei einem erneuten Luftalarm in Israel angefangen habe zu schreien, sei der Entschluss gefallen, das Land zu verlassen. "Kurz bevor wir hierhergekommen sind, haben wir den Kindern erklärt, dass am 7. Oktober nicht nur Raketen gefallen sind", sagt Ben Ami. Ihre Stimme erstickt in Tränen. Nicht alles hätten sie ihnen erzählt, sie wüssten nicht, dass an jenem Tag auch ihr Musiklehrer getötet wurde.

Für viele jüdische Israelis, die in diesen Tagen Zypern erreichen, ist die Küstenmetropole Larnaka das erste Ziel. Sie ist mit dem internationalen Flughafen nicht nur Drehkreuz für den Nahen Osten, sondern auch das Zentrum des jüdischen Lebens auf der Insel. Nur wenige Schritte von der Altstadt entfernt blockieren Absperrband und Betonbarrikaden die Zufahrt zur größten Synagoge. Vor dem elektronisch gesicherten Metalltor wachen bewaffnete Soldaten und Polizisten. "Angesichts der aktuellen Situation wollen wir kein Risiko eingehen", sagt Menachem Raskin in seinem Büro. Der älteste Sohn des Oberrabbiners von Zypern arbeitet für die Gemeinde, die nicht nur zum Beten in die Synagoge kommt. Auch ein koscheres Restaurant mit zwei Dutzend Tischen und ein kleiner Supermarkt gehören zu dem vierstöckigen Gebäude.

In den ersten beiden Wochen nach dem Angriff der Hamas seien Tausende jüdische Familien aus Israel zur Synagoge gekommen, sagt Raskin. Viele reisten weiter nach Europa oder in die USA, weil es kaum Direktflüge mehr gab, andere flogen nach einigen Tagen zurück nach Israel. Etwa 1.000 seien geblieben, sagt Raskin, manche wollten sich auf Zypern ein neues Leben aufbauen, man helfe bei der Suche nach Wohnung oder Schulplatz. Damit wächst auch die Gemeinde, die zuletzt rund 3.000 Familien zählte – aus Israel, Großbritannien, Russland und seit Februar 2022 vermehrt aus der überfallenen Ukraine.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg lebten schon einmal Tausende Jüdinnen und Juden auf der Insel, unfreiwillig. Zwischen 1946 und 1949 fingen die Briten unter ihrer Kolonialherrschaft auf Zypern etwa 52.000 Juden auf ihrem Weg nach Palästina ab, das als Mandatsgebiet ebenfalls der britischen Krone unterstand. Großbritannien wollte die Masseneinwanderung nach Palästina eindämmen und steckte die jüdischen Migranten in Internierungslager. Die meisten von ihnen waren Holocaustüberlebende aus Europa, einige stammten aus Nordafrika. Erst nach der Staatsgründung Israels 1948 begann man, sie gehen zu lassen.

Auf dem Gelände der jüdischen Gemeinde erinnert eine der alten Blechbaracken an die Lager. Sie soll Teil des Jüdischen Museums von Zypern werden, für das eine Baugenehmigung noch aussteht. Wenn es so weit ist, dürften auch die Fotoalben der Raskins einige Exponate liefern. Als die israelische Familie vor 20 Jahren auf der Insel ankam, hätten nicht einmal 80 jüdische Familien auf der Insel gelebt, sagt Menachem Raskin: "Die erste Synagoge befand sich in unserem Wohnhaus", erinnert sich der Rabbinersohn, der damals noch ein Kind war. Heute gibt es fünf Synagogen.

Auf Zypern habe sich seine Familie immer willkommen gefühlt, sagt Raskin. Doch er sei sich der Geografie und Geschichte der Insel bewusst – seit 1974 ist Zypern geteilt, der Nordteil von der Türkei besetzt, der Konflikt nur eingefroren. Zuletzt hat der Streit mit der Türkei um Gasvorkommen vor der Küste auch zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen Israel und der griechischen Republik Zypern im Süden beigetragen.

In der aktuellen Lage präsentiert sich die griechisch-zyprische Regierung als Vermittlerin. So schlug sie etwa einen humanitären Korridor vor mit Hilfslieferungen vom Hafen in Larnaka in den nahen Gazastreifen, als Entlastung für den ägyptischen Grenzübergang Rafah. Vorerst scheint das wegen fehlender Infrastruktur nicht machbar, aber es ist ein Signal auch an die arabischen Nachbarn. Auch viele Libanesen machen auf Zypern Urlaub oder investieren, nach wie vor kommen viele syrische Geflüchtete an den Küsten an. "Trotzdem fühlen wir uns hier sicherer als anderswo in Europa. Sogar mehr als in Berlin, Paris oder London, wo wir Hunderttausende Demonstrierende sehen, die vorgeben, friedlich zu sein, und es dann doch nicht sind", sagt Raskin.

Propalästinensische Demonstrationen finden auch auf Zypern statt, vor allem in der geteilten Hauptstadt Nikosia. An diesem Tag ziehen bei einem der wöchentlichen Proteste rund 400 Menschen durch die Innenstadt, begleitet von Dutzenden Polizisten. Aufgerufen hatte eine Studierendengruppe der Universität von Nikosia, und die Teilnehmenden sind so vielfältig wie die Bewohner der Stadt: Zyprioten, Europäer anderer Staaten, Palästinenser. "Niko, Niko, you can't hide, you're supporting genocide", skandieren sie, adressiert an den Staatspräsidenten Nikos Christodoulidis.

"Als Zypriotin schäme ich mich", sagt eine Frau auf Nachfrage. "Ich kann nicht akzeptieren, dass sich unsere gewählten Vertreter bei der Abstimmung zur UN-Resolution über eine Waffenruhe im Gazastreifen enthalten haben." Eine andere Frau, die eine große palästinensische Flagge schwenkt, sagt: "Erst vergangene Woche haben israelische Sicherheitskräfte auf meinen 80-jährigen Onkel geschossen, als er im Westjordanland auf dem Weg zu seinem Olivenhain war." Die Forderung nach einer Waffenruhe überwiegt an diesem Tag. Doch im hinteren Teil des Protestzuges sind auf Arabisch auch andere Rufe zu hören, etwa die nach der Bombardierung Tel Avivs.

Es seien solche Töne, sagt Edit Ben Ami, die ihr Angst machten. "Seit dem 7. Oktober fühle ich mich als Jüdin nirgendwo mehr sicher", sagt sie. Physisch sei sie jetzt zwar auf Zypern angekommen, gedanklich aber noch immer in Israel. Jeden Tag spreche sie mit ihren Freunden aus Nir Oz, frage, ob es Neuigkeiten von den Geiseln gebe, ob weitere Tote identifiziert wurden. Kann sie nachvollziehen, dass viele Menschen auch Empathie für die palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen einfordern? Das sei kompliziert, sagt Ben Ami: "Vor einigen Jahren hätte ich das vielleicht. Aber jetzt nicht mehr." Die Palästinenser würden ihre Kinder zum Hass erziehen. Und nicht einmal Israelis, die sich bis zuletzt für den Frieden eingesetzt hätten, seien bei dem Massaker verschont worden.

Ob Edit Ben Ami jemals wieder nach Israel zurückkehren will, kann sie noch nicht sagen. Auch nicht, ob sie mit ihrer Familie auf Zypern bleiben wird. "Ich möchte leben, ohne über die Schulter schauen zu müssen", sagt sie: "Und ich möchte am Geburtstagstisch sitzen können, ohne das Messer anzuschauen und zu denken, dass man es noch zu etwas anderem als zum Kuchenschneiden benutzen kann." Wirklich weitermachen, das könne Ben Ami erst, wenn ihre Leute endlich aus der Geiselhaft freikämen.

Fotos: Patrick Slesiona